Wozu Rhythmus als Konzept (für Psychotherapie)?

Tagungsbericht der Arbeitsgruppe Interaktionsstudien um Prof. Dr. Dr. M. B. Buchholz

Die Tagung „Rhythm and Sound in Performative Practices and Psychotherapy“ war von Prof. Dr. Michael B. Buchholz und Prof. Dr. Stefan Pfänder langfristig vorbereitet worden. Sie fand vom 31.1. bis 3.2.2018 am interdisziplinär arbeitenden Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg statt.

Die Idee der Tagung basierte auf der Grundidee, dass Menschen einerseits die Sprache als genaues Ausdrucks- und Austauschinstrument zur Verfügung haben, andererseits aber auch musikalische Ausdrucksmittel, die Vieldeutigkeit nicht entbehren können. Wir fühlen, dass Musik uns etwas „sagt“ und müssen hinnehmen, dass jeder Versuch, das Gesagte zu formulieren, die Musik zum Verschwinden bringt. Die Vermutung, der auf der Tagung nachgegangen werden sollte, war deshalb, dass Sprache und Musik unterschiedliche soziale Integrationsfunktionen erfüllen: Sprache auf dem Weg über ihre Objekte, Musik auf dem Weg über performative Formen wie etwa Tanz, Gesang, Rhythmus. Bemerkt man, dass Sprechen genau diese körperlichen Dimensionen realisiert, kann man die musikalische Performanz „am“ Sprechen hören. Selbst dann, wenn wir uns bei der Formulierung rhythmischer Praktiken an deren Unschärfe scheitern hören können. Dies breite Spektrum kann nicht etwa als „nonverbal“ vom Sprechen abgetrennt werden. Es ist Sprechen-im-Vollzug und birgt für psychotherapeutische Interaktionen ein großes Potential des emotionalen und kognitiven Mitteilens und Verstehens.

Die Tagung war als Arbeitskonferenz geplant, verschiedene Arbeitsteams brachten ihre Daten, meist in Form von Video-Ausschnitten, zu sehr produktiven „Data-Sessions“ ein. Die Gruppe um Cornelia Müller erwies Gesten in einer neuartigen Systematik als außerordentlich gut klassifizierbar. Auch Gesten werden nicht als „nonverbal“ angesehen, sie sind in vielerlei Hinsichten mit dem (Rhythmus) des Sprechens verzahnt und können deshalb als „andere Seite“ der Mitteilung aufgefasst werden, die eine logozentrische Sprachauffassung nur allzulange ignoriert hatte. Man könne deshalb von der Einheit der Mitteilung ausgehen, ihr Zerfall hingegen sei Symptom einer Art Störung.

Dazu passte die Erinnerung von Michael B. Buchholz an Karl Bühlers Origo-Theorie. „Origo“ ist der Ursprung des Koordinatensystems subjektiver Orientierungen im Zeigraum, von dem aus Worte wie hier, jetzt und Ich bei Bühler verständlich werden lässt als Deixis des Realen. Gezeigt wird aber nicht nur auf Etwas in der gegenständlichen Welt, sondern auch in dem, was Bühler „Deixis des Phantasmas“ nannte – wenn ein Sprecher etwa einen anderen Sprecher zitierend wieder gibt und das Wort „ich“ dann die Bedeutung von diesem „anderen Sprecher“ annimmt. Das kann ein Hörer übernehmen und teilen, dann befinden sich beide im Phantasma.  Diese Idee wurde am Material eines Paares exemplifiziert und dabei auf Aspekte der Rollentheorie von Irving Goffman zurückgegriffen. Was in der Paartherapie als „Kollusion“ bekannt ist, kann so sprachanalytisch genau beschrieben werden.

In den IPU-Beiträgen wurden Rhythmus und Klang in performativen Praktiken und Psychotherapie untersucht. Florian Dreyer zeigte, was die prosodische Analyse einer Holocaust-Überlebenden im Zeitzeugen-Interview reichhaltig mitteilt und wieviel mühsam zurückgehaltene Emotionalität hier in die Darstellung einfließt. Erzählmotive helfen der Sprecherin, emotional schwierige Inhalte zu vermitteln, ohne von diesen übermannt zu werden. Michael M. Dittmann machte in einer technisch aufwendigen Präsentation deutlich, wie die Rhythmen einer Gruppe von Männern und Frauen auf der Bühne sich so beschleunigten, dass der Rhythmus des Orgasmus auf der Bühne zu hören ist, obwohl alle bekleidet sind und etwas „ganz anderes“ darzustellen scheinen. Die „Kommandoszene“ des Tanztheaters „Kontakthof“ von Pina Bausch zeigt, wie sich die TänzerInnen trotz geprobter Bewegungsabläufe in-time wechselseitig orientieren und aus einer Symphonie des balancierten Tempos eine „rhythmische Ko-Konstruktion“ wird. Die Performanz dieser Rhythmisierung macht symbolischen Sinn.

In einer Datensitzung stellte Christopher Mahlstedt vor, wie das tonale Sprechen eines Paares, musikalisch in Notenform dargestellt, geeignet ist, die Musik des Sprechens sichtbar zu machen und Rhythmisierungen verstehbar. Man darf sagen, dass die Beiträge der IPU Eindruck hinterlassen haben.

In einer späten Abendarbeit hatte Florian Dreyer eine ähnliche musikalische Lösung für ein Problem skizziert, das Stefan Pfänder und Marie-Luise Herzfeld-Schild (Cambridge) vorgetragen hatten, wiederum bei einem Paar, deren reichhaltige Rhythmik (Lachen, Arme, Beine) zu erkennen war, aber ratlos machte, wie das analysiert werden könnte. Florian gelang es, ein Notenbild davon (schon recht präzise) zu skizzieren und so konnte auf diese Weise ein verwirrender Multi-Rhythmus sichtbar gemacht werden.

Zwei Psychoanalytiker, Johannes Picht und Jörg Scharff, beide mit den Beziehungen der Psychoanalyse zur Musik von anderen Forschungen und selbst als Musiker tätig, beschlossen mit zwei klinischen Beiträgen diese sehr anregende Tagung. Sie ergänzten die bislang dominierende mikro-analytische Perspektive durch eine größere Einbettung; Picht durch weit ausgreifende philosophische Überlegungen um „Einfall“ und Scharff durch eine subtile Beschreibung des Rhythmus des Ergriffenseins.

Autoren: Michael M. Dittmann und Michael B. Buchholz