Einführungen in Kritische Theorie und Psychoanalyse als Ideologiekritik.
Psychoanalyse, die programmatisch "jeden Schein und Trug ausschließt" (Freud, 1937), ist von Anfang an mehr als nur Psychotherapie. Die methodisch vorangetriebene Versenkung ins Individuum legt unbewusste Mächte frei, von denen sich das vermeintlich autonome Ich als zutiefst abhängig erweist. In den Symptombildungen, dechiffriert als Leidensgeschichte des Subjekts, offenbart sich der ganze Irrationalismus der Kultur, unter deren Druck die Archaik der Triebe ins Unheilvolle anzuwachsen droht. Psychoanalytische "Aufklärungsarbeit" (Freud, 1911) wendet sich deshalb zugleich gegen die herrschende Moral und die ideologischen Indienstnahmen des beschädigten Trieblebens.
An diesem Punkt trifft sich Psychoanalyse mit der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno formulierten Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. In deren Zentrum steht die Frage, wie die abendländische Aufklärung in Nationalsozialismus und Massenvernichtung umzuschlagen vermochte. Ihnen geht es jedoch nicht um eine pauschale Verurteilung, sondern im Gegenteil, um eine Errettung von Aufklärung und einen emphatischen Bezug zur Wahrheit – darin Freud gleich, der die Autonomie des Ichs allen Widrigkeiten zum Trotz nie als Ziel analytischer Heilung aufgegeben hat.
Das aufklärerische Projekt beider bleibt aktuell, solange die Bedingungen des von ihnen bestimmten Unrechts auch gegenwärtig noch fortbestehen. Seit der Shoah muss das vorrangige Objekt ideologiekritischer Bemühungen daher in der Bekämpfung gesellschaftlichen Wahns und gegenaufklärerischer Kräfte liegen, deren Inbegriff der Antisemitismus ist.
Die Vorträge dieser Reihe sollen Einführungen in das damit umrissene Feld Kritischer Theorie und den ideologiekritischen Gehalt der Psychoanalyse bieten. Im Anschluss laden wir ein zur Diskussion mit unseren Gästen.
Die krIPU ist eine Initiative von Studierenden der IPU Berlin, die sich regelmäßig trifft und Veranstaltungen organisiert, um die Möglichkeiten und Grenzen einer gesellschaftskritischen und politischen Psychoanalyse, ihre überschaubare Geschichte und ihre ungewisse Zukunft zu diskutieren. Interessierte sind eingeladen, sich in Verbindung zu setzen.
Die Gesellschaft für Psychoanalyse & Kulturtheorie ist ein noch junger gemeinnütziger Förderverein, der sich zum Ziel gesetzt hat, Freundinnen und Freunden der Psychoanalyse, Studenten, Nachwuchswissenschaftlern, angehenden Klinikern sowie Interessierten einen Ort für Überlegungen zu psychoanalytischen und kulturtheoretischen Themen zu bieten. Sie gibt die Zeitschrift Signorelli | psychoanalyse & kulturtheorie heraus.
Gefördert durch den StuRa und die Freunde und Förderer der IPU Berlin e.V.
Vortrag und Diskussion mit Christian Voller
19:00 Uhr, Stromstr. 2, Hörsaal 1
— Max Horkheimer bestimmte die Kritische Theorie als ein Unterfangen, das »nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens« ziele, sondern stets ein Moment der »historischen Anstrengungen« zu bewahren habe, »eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt.« So verstanden hat die Kritische Theorie einen historischen Index: möglich wurde sie auf der Grundlage der modernen dialektischen Philosophie, sinnvoll erst im Angesicht einer revolutionären Bewegung, die praktisch über den Kapitalismus hinausdrängte, tragisch dann unter dem Eindruck des Scheiterns dieser Bewegung, und sie veränderte sich noch einmal grundlegend als sie gezwungen war, die Shoa im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs in ihre Reflexion der ›Menschheitsgeschichte‹ aufzunehmen. In dem Vortrag wird die Entwicklung der Kritischen Theorie von ihren Anfängen in den 1920er Jahren bis in die 1960er Jahre hinein nachgezeichnet, um so die systematischen Probleme und theoretischen Veränderungen als historisch bedingte greifbar zu machen. Damit verbunden ist vor allem die Einladung zur Diskussion über die Frage, was Kritische Theorie heute ist und sein kann.
Christian Voller arbeitet als Dozent für Kulturwissenschaften in Lüneburg und vertritt einen traurigen Kommunismus in Forschung und Lehre. Unlängst erschien sein Buch »In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie« (2022).
Vortrag und Diskussion mit Gunzelin Schmid-Noerr
19:00 Uhr, Stromstr. 2, Raum 1
Der Vortrag musste verschoben werden, der Nachholtermin ist der 05.12.
— Keine Kritische Theorie ohne Psychoanalyse, dies war von Anfang an die Überzeugung des Kreises um Max Horkheimer und der Mitarbeitenden des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a.M. am Vorabend des Dritten Reiches und in der amerikanischen Emigration. Das um 1930 zunächst von Erich Fromm entwickelte Konzept einer Analytischen Sozialpsychologie sollte die libidinöse Struktur der Gesellschaft und dabei insbesondere die Funktion der Ideologien erforschen. In den Institutsprojekten fungierte die Psychoanalyse als Bindeglied zwischen sozialphilosophischen Entwürfen (wie der »Dialektik der Aufklärung«) und soziologischer Empirie.
Im Verlauf der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung trat die Psychoanalyse dann zunehmend aus ihrer anfänglichen Rolle als bloße »Hilfswissenschaft« für die Kritische Theorie der Gesellschaft heraus. Einerseits wurde sie selbst als mögliches Mittel gesellschaftlicher Anpassung kritisiert, andererseits wurde ihr von nachfolgenden Autoren das Potenzial bescheinigt, ihrerseits als Kritische Theorie des Subjekts aufzutreten. Im Vortrag wird diese Entwicklung dargestellt und untersucht, welche besondere kognitive Struktur einer kritischen Verwendungsweise der Psychoanalyse zukommt.
Gunzelin Schmid Noerr ist em. Professor für Sozialphilosophie, Ethik und Anthropologie an der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach. Eine seiner neueren Monographie ist Ethische Zielkonflikte in der Sozialen Arbeit, erschienen 2021 im Kohlhammer Verlag. Er ist (u.a.) Herausgeber von: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften und Briefe in 19 Bänden, S. Fischer, Frankfurt a.M. 1985-96; Zur Kritik der regressiven Vernunft. Beiträge zur »Dialektik der Aufklärung«. Hrsg. mit Eva-Maria Ziege, Springer, Wiesbaden 2019; Zwang und Utopie – das Potenzial des Unbewussten. Hrsg. mit Margret Dörr und Achim Würker, Beltz, Weinheim Basel 2022.
Vortrag und Diskussion mit Stephan Grigat
19:00 Uhr, IPU Berlin, Stromstr. 3b, Hörsaal 3
— Inwiefern beruht der moderne Antisemitismus auf religiöser Judenfeindschaft; handelt es sich beim antisemitischen Ressentiment um ein bloßes Vorurteil; und was sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen antisemitischen und rassistischen Projektionen? Der Vortrag wird zunächst Antisemitismus als eine wahnhaft-projektive Reaktion auf die moderne Gesellschaft dechiffrieren, um sich dann einer der wichtigsten Gegenreaktionen zum Antisemitismus zuzuwenden: der jüdischen Nationalbewegung, die im 19. Jahrhundert entstanden ist und 1948 zur Gründung Israels geführt hat.
Es soll gezeigt werden, wie der Zionismus vor dem Hintergrund einer kritischen Theorie des Antisemitismus zu verstehen ist, um abschließend die Frage zu stellen, was der von Adorno formulierte neue kategorische Imperativ, alles Handeln und Denken im Stande der Unfreiheit so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederholen kann, in der gegenwärtigen Konstellation und angesichts der aktuellen Bedrohung des jüdischen Staates bedeutet.
Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule NRW und Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) in Aachen. Er ist Research Fellow an der Universität Haifa und am London Center for the Study of Contemporary Antisemitism, Autor von »Die Einsamkeit Israels: Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung« (Konkret 2014), Herausgeber von »Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart« (Nomos 2023) und Mitherausgeber von »Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der Historikerstreit 2.0« (Verbrecher 2023).
Alle Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.
Vortrag und Diskussion mit Thorsten Fuchshuber
19:00 Uhr, IPU Berlin, Stromstr. 2, Hörsaal 1
— Der Antisemitismus sei »etwas ganz anderes als eine Denkweise: Er ist vor allem eine Leidenschaft«, ein umfassendes »Engagement der Seele«, meinte Jean-Paul Sartre und betonte den zutiefst irrationalen Charakter der antisemitischen Regung. Max Horkheimer urteilte, er halte den Antisemitismus, »trotz der ungeheuren Bedeutung wirtschaftlicher und sozialer Tendenzen […] für ein im Wesentlichen psychologisches Phänomen«. Die schiere Freude, die Ausgelassenheit und Euphorie, die das antisemitische Morden begleitet, waren auch am 7. Oktober 2023 deutlich zu sehen – dem bis dato schlimmsten Massaker an Jüdinnen und Juden, das es seit dem Holocaust gegeben hat. Sie hat die Mörder der Hamas mit ihren Claqueuren weltweit vereint. Woher rührt diese Lust am antisemitischen Wahn?
Die in dem Vortrag vertretene These geht davon aus, dass der Antisemitismus vielen, die ihn verinnerlicht haben, einen psychischen Gewinn verschafft. Zunächst wird ein knapper Einblick in die Bedeutung der Psychoanalyse für die Kritik des Antisemitismus gegeben. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt darauf, welche Bedeutung der Bezug auf den pathologischen Narzissmus hierbei hat. Es soll deutlich werden: Mit der antisemitischen Tat fantasieren und komplettieren die antisemitischen Charaktere ihr grandioses Größenselbst.
Thorsten Fuchshuber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre Interdisciplinaire d'Étude des Religions et de la Laïcité (CIERL) an der Université libre de Bruxelles und Journalist. Er ist Autor von Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft (ça ira, 2019) und hat gemeinsam mit Judith Frishman den Band Samuel Hirsch – Philosopher of Religion, Advocate of Emancipation and Radical Reformer (De Gruyter, 2022) herausgegeben. Jüngste Veröffentlichung zum Vortragsthema: „Der Genuss am Judenhass: Über den Zusammenhang von Antisemitismus und Narzissmus“, in: Stephan Grigat (Hg.): Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Erscheinungsformen – Theorien – Bekämpfung (Nomos, 2023).
Vortrag und Diskussion mit Tove Soiland
19:00 Uhr, IPU Berlin, Stromstr. 2, Hörsaal 1
— Das Paradigma der sexuellen Differenz steht in der Tradition der Lacanschen Psychoanalyse. Anders als der Freudomarxismus geht Lacan davon aus, dass dem menschlichen Genießen, das er jouissance nennt, eine Negativität inhärent ist, die er nicht auf eine gesellschaftliche »Deformation« des Triebes zurückführt. Vielmehr bringt er diese Negativität mit einem notwendigen Verlust in Zusammenhang, der mit dem Eintritt des werdenden Subjekts in die Gesellschaftlichkeit einhergeht. Lacan bindet diese Negativität an die sexuelle Differenz und verknüpft damit die Aussage, dass der Kapitalismus die sexuelle Differenz loswerden will, insofern dieser seine Verführungskraft gerade daraus bezieht, vorzugeben, diese Negativität aufheben zu können.
Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose diskutiert der Vortrag die heute in den Cultural Studies vorherrschende Vorstellung, dass der Pluralisierung von Geschlecht mit ihrer Fokussierung auf die »Dekonstruktion« geschlechtlicher Identitäten ein emanzipatives Potential zukommt. Die Lacansche Psychoanalyse verteidigt demgegenüber die sexuelle Differenz, wobei Lacan selbst diese nicht an den Ödipus bindet, sondern an das, was er »symbolische Kastration« nennt. Lacan gehört damit zu den frühesten und originellsten Kritikern von Freuds Ödipustheorie, indem er den von Freud darin angesprochenen Verlust (Freuds »Kastrationsdrohung«) als notwendigen Verlust deutet.
In Anlehnung an Lacans Geschlechtertheorie, die dieser Kritik entspringt, werde ich in meinem Vortrag argumentieren, dass die Vorstellung einer Pluralisierung geschlechtlicher Positionen ein zentrales Potential der Aufklärung, das Lacan in seinen sogenannten »Formeln der Sexuierung« der weiblichen Seite attestiert, vergibt. Dieses aufklärerische Potential besteht darin, den primordialen Verlust nicht länger an eine väterliche Metapher zu binden, dessen heimliche Allmacht Lacan, wie er in seinem Seminar XVII ausführt, für das »mythische Residuum« der Psychoanalyse hält. Allerdings hat das Schwinden der väterlichen Autorität post ‘68, anders als zu erwarten gewesen wäre, dieses Potential nicht in den Vordergrund treten lassen. Vielmehr ist die gesellschaftliche Liberalisierung in die Verheißung eines allumfassenden Genießens gemündet und damit in das, was Lacan als die Fallstricke der postödipalen Gesellschaft bezeichnet.
Textvorschlag zur Vorbereitung:
Soiland, Tove (2023): Lacans Verständnis von Geschlecht und seine zeitdiagnostische Bedeutung. In: Texte, Heft 1/23, Jg. 43, S. 93-114
Soiland, Tove (2023): Das unsichtbare Residuum patriarchaler Macht in der postödipalen Gesellschaft: Das Phantasma des mütterlichen Körpers. In: Sorgo, Gabriele (Hg.): Starke Ordnung und das schwache Geschlecht. Herstellung weiblicher Unsichtbarkeit. Weinheim (BelzJuventa), S. 147-168
Die Texte können über die Website der krIPU heruntergeladen werden: Download
Tove Soiland studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Zürich. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Innsbruck und hat an zahlreichen Universitäten Lehraufträge inne. 2008 promovierte sie an der Universität Zürich zu Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Ihre heutigen Arbeitsschwerpunkte liegen in dem Bereich Feministische Theorie, Lacansche Psychoanalyse und Marxismus, und Theorien des Totalitarismus. 2003 initiierte sie den »Gender-Streit«, eine Kontroverse um die theoretischen Grundlagen des Gender-Begriffs. 2016 erhielt sie für ihr feministisches Engagement den Ida Somazzi-Preis. Sie ist Mitherausgeberin (zusammen mit Marie Frühauf und Anna Hartmann) der beiden Bände: Postödipale Gesellschaft und Sexuelle Differenz in der postödipalen Gesellschaft (Turia + Kant 2022). Ihr jüngstes Buch ist Sexuelle Differenz, hrsg. von Anna Hartman (Unrast 2022).