Noch einmal Avantgarde

Keine Deklaration, keine Initialzündung: Changierend zwischen programmatischer Verständigung und politischem Anspruch, versuchten Volkmar Siguschs Entwürfe einer Kritischen Sexualwissenschaft in den späten 1980er Jahren  das Selbstverständnis der „zweiten Generation“ der westdeutschen Nachkriegssexologie auf die Begriffe zu bringen – einer Generation, die schon in den frühen 1970er Jahren zu Einfluss gekommen war.

Wie der Vortrag umreißt, war es dennoch kein Zufall, wenn die konkrete Ausformulierung einer Kritischen Sexualwissenschaft zeitlich sehr viel näher am moment of queer um 1990 lag als an der Ausrufung etwa der Kritischen Psychologie oder der Kritischen Kriminalistik, die sich schon im Jahrzehnt zuvor formiert hatten. Kritische Sexualwissenschaft diente der Lagebestimmung und dem Selbstverstehen nach dem Erodieren der sexuellen und geschlechtlichen Ordnung der Moderne, ein Prozess, der mit dem Ende sexualrevolutionärer Utopien zusammenfiel. Kritische Theorie, französischer Poststrukturalismus, eine auch nach 1989/90 fortgesetzte Marx-Rezeption und nicht zuletzt kritische (Re-)Lektüren Freuds gingen dabei als  Instrumente des Zugriffs eine eigentümliche, international einmalige Synthese ein. Gleichermaßen Theorie und Verhaltenslehre, bewies sie hierzulande eine bemerkenswerte Präge- und Haltekraft.