The annual conference of the IPU Berlin will be devoted to qualitative methods within psychoanalytic cultural and social research.
For Sigmund Freud, the various applications of psychoanalysis outside of the couch-setting were indisputable. Freud said that the use of analysis for the therapy of neuroses is only one of its applications and that the future might show that it is not the most important one. In the wake of Freud’s cultural-critical studies, among others, ethnological and critical studies of religion emerged. The Frankfurt School incorporated psychoanalytic concepts and methods in its studies of anti-Semitism and authoritarianism. In these studies, subjective drive dynamics were seen as the processing of social crisis phenomena. Applying psychoanalytic models allowed for the unraveling of these phenomena.
With the conceptualization of depth-hermeneutics, Alfred Lorenzer made an influential contribution to ‘cultural analysis’ in the German-speaking world. Methodologies within depth hermeneutics vary widely and are taken into account to varying degrees. Among others, they include: scenic understanding, free association, text evaluation, analysis of countertransference and group evaluation formats. Particularly influential is Georges Devereux’s argument that the use of overly formalized methods can help to ward off anxiety when dealing with a research subject. Ulrich Oevermann also drew on psychoanalytic terminology to develop objective hermeneutics – an analytical method that attempts to reconstruct the latent structure of a case through precise textual interpretations.
With the help of psychoanalytic concepts and the application of psychoanalytic methods, there is a great variety of approaches to investigate social and cultural problems today. These different variations of qualitative interpretations are positioned in a field of tension between associative and textual, (counter)transference-focused and structuralist approaches to analysis. Regardless of their orientation, all are united by the intention to identify something in the subconscious, in the “dregs [ …] of the world of phenomena” (Freud). The chosen perspective of each subject area leads to distinct assumptions about what the subconscious is and how and where it can be discovered. Only rarely, however, is the concept of the subconscious made explicit. Thus, this year’s annual conference will also focus on which assumptions about subconscious processes in their relation to culture and society are implied in qualitative-psychoanalytic research.
The conference is aimed at a professional audience interested in the psychoanalytic, cultural and social sciences. Together with experts in the field of psychoanalytic cultural and social research, scholars from the IPU will present their approaches and research. During workshops, young scholars will be able to present and discuss their research. The conference will conclude with a panel discussion where a range of methodological approaches will be discussed. The panel will further explore the question of the critical orientation of psychoanalytic social and cultural research.
Speakers at the conference: Prof. Dr. Michael B. Buchholz, Prof. Dr. Hans-Joachim Busch, Dr. Katarina Busch, Dr. Markus Brunner, Prof. Dr. Benigna Gerisch, Prof. Dr. Vera King, Jun.-Prof. Dr. Julia König, Dr. Steffen Krüger, Prof. Dr. Elfriede Löchel, Dr. Sonja Witte
Organizers: Prof. Dr. Christine Kirchhoff, Aaron Lahl, Benedikt Salfeld
Contact: triebundmethode(at)ipu-berlin.de
Location: International Psychoanalytic University (IPU) Berlin
Room: Stromstr. 2 (Lecture Hall 1)
The event is free of charge.
19:00–19:15: Eröffnung und Begrüßung
19:15 – 20:45: Abendvortrag: Prof. Dr. Vera King: "Szene – Sequenz – Narration: Erkenntnisperspektiven psychoanalytischer und qualitativ-rekonstruktiver Forschung"
Anschließend: Umtrunk/Imbiss
10:00–11:00: Vortrag von Prof. Dr. Hans-Joachim Busch: "Natur – Sinn – Gesellschaft. Die Kritische Theorie des Subjekts"
11:15–12:15: Vortrag von Prof. Dr. Elfriede Löchel: "Wo gesprochen wird, wird übertragen. Gesprächstexte und Szenen in der sozialpsychologischen Forschung"
12:30–13:30: Vortrag von Jun.-Prof. Dr. Julia König & Dr. Markus Brunner: "Latentes und Unbewusstes"
13:30–15:00: Mittagspause
15:00–18:00: Workshops:
1. Workshop:
Clara-Sophie Adamidis: "Tiefenhermeneutische Betrachtung des subjektiven Erlebens auf Youtube", Tom Putensen: "Die Bedeutsamkeit digitaler Rollenspiele", Raem Abd-Al-Majeed & Charlie Kaufhold: "Forschungsmaterialien und Erkenntnisinteressen der Tiefenhermeneutik"
2. Workshop:
Ramona Franz: "(Ohn)mächtige Lebensführung. Zum Einfluss intergenerational vermittelten Ohnmachtserlebens zur Nachwendezeit auf das Selbstwirksamkeitserleben Ostdeutscher im mittleren Erwachsenenalter", Dominik Drexel: "Psychoanalytisch forschen mit der Grounded Theory: Affinitäten und Probleme", Benedikt Salfeld: "Zur Psychoanalyse junger Erwachsener. Methodische Überlegungen und Forschungsergebnisse"
3. Workshop:
Hanna Höher: "Weibliche Täter:innenschaft – über die Zwischen- und Grenzbereiche der Unvereinbarkeit von Weiblichkeit und Gewalt", Verena Pohl & Tobias Reuss: "Das Unbewusste und das Latente in der Konzeption der Objektiven Hermeneutik und der Tiefenhermeneutik", Aaron Lahl: "Der gewöhnliche Onanist: Eine psychoanalytisch-sexualwissenschaftliche Untersuchung zur Bedeutung der Masturbation für junge Männer"
18:00–19:00: Snacks und Kaffee, Posterpräsentation
19:00–20:30: Abendvortrag von Dr. Steffen Krüger: "Wiederholungsdrang – The Urge to Repeat in a Cultural Analysis with Drive"
10:00–11:00: Vortrag von Prof. Dr. Michael B. Buchholz: "Die Situationsgestalt"
11:15–12:15: Vortrag von Dr. Sonja Witte: "„Allerdings habe ich das Bild nicht sexuell interpretiert.“ Zu Sexualmoral im Kontext von #MeToo forschen"
12:30–13:30: Vortrag von Dr. Katarina Busch: "Rekonstruktion protokollierter Lebenspraxis – Überlegungen zu objektiv-hermeneutischen Fallstrukturanalysen"
13:30–15:00: Mittagspause
15:00–16:00: Vortrag von Prof. Dr. Benigna Gerisch: "„Ich will ja nicht Präsidentin der Welt werden“: Auf den Spuren des Unbewussten in qualitativen Forschungsinterviews"
16:15–17:30: Abschlussdiskussion: "Was ist kritisch an der psychoanalytischen Sozialforschung?" mit Prof. Dr. Hans-Joachim Busch, Prof. Dr. Benigna Gerisch, Dr. Markus Brunner, Dr. Steffen Krüger und Prof. Dr. Elfriede Löchel. Moderation: Prof. Dr. Christine Kirchhoff.
„Die Situationsgestalt“
Äußerungen geschehen immer in Situationen, im klinischen Kontext sprechen wir von „Behandlungssituation“. Äußerungen bestätigen den Referenzrahmen der „Situation“, aber sie haben auch das Potential, diesen zu verschieben., so dass unerwartete Bedeutungsgebungen entstehen. Freud hatte das an den Fehlleistungen analysiert. Weitere solcher Verschiebungen in therapeutischen Konversationen möchte ich an transkribierten Beispielen vorführen; sie entwerfen neue symbolische Gehalte, verändern die interaktive Beziehungsgestalt und schaffen unerwartete Potentiale, in destruktiver wie konstruktiver Richtung – und lassen neue Situationen entstehen.
Natur – Sinn – Gesellschaft. Die Kritische Theorie des Subjekts
Alfred Lorenzers Ansatz wird zunächst in seiner Entstehungsgeschichte im Kontext von Kritischer Theorie, Psychoanalyse und psychoanalytischer Sozialpsychologie skizziert. Seine Kritische Theorie des Subjekts entfaltet, wie erläutert wird, das Thema „Trieb und Methode“ im Begriffsrahmen von Natur, Sinn und Gesellschaft. Psychoanalyse, so die dahintersteckende Absicht, wird über eine Metatheorie sozialwissenschaftlich anschlußfähig. Es wird weiter gezeigt, welche wesentlichen Begriffe, herangezogen aus außerpsychoanalytischen Bezügen, dafür gebildet werden und wie sie zu einer Gesamtgestalt gefügt werden – als Sozialisationstheorie und Tiefenhermeneutik. Auf dieser Basis erst ist auch psychoanalytische Erkenntnis jenseits der Couch statt bloßer „angewandter Psychoanalyse“ begründbar. Diesem Anspruch wird die nun in den Mittelpunkt gerückte Tiefenhermeneutische Kulturanalyse gerecht. Der Vortrag wird zudem die Relevanz und Besonderheit dieser Form von Sozial- und Kulturforschung herausstellen.
Rekonstruktion protokollierter Lebenspraxis – Überlegungen zu objektiv-hermeneutischen Fallstrukturanalysen
Die Methode der objektiv-hermeneutischen Fallrekonstruktion nach Ulrich Oevermann zielt darauf, nicht nur manifest geäußerte Selbstdeutungen und -bilder zu untersuchen, sondern diese in ihrem Spannungsverhältnis mit latenten, handlungserzeugenden Sinnstrukturen zu analysieren. Eine Fallstruktur, wie sie methodisch mithilfe der Sequenzanalyse gebildet wird, umfasst diesem Verständnis nach den jeweils inneren, eigenlogischen Zusammenhang verschiedener Dispositionen und unbewusster Gehalte eines Falls. Anhand von Beispielen aus der soziologisch-sozialpsychologischen Forschung werden in diesem Beitrag grundlegende Annahmen und die Vorgehensweise der objektiven Hermeneutik vorgestellt.
„Ich will ja nicht Präsidentin der Welt werden“: Auf den Spuren des Unbewussten in qualitativen Forschungsinterviews
Vor dem Hintergrund der langjährigen Erfahrungen in transdisziplinären, qualitativen Forschungsprojekten – Aporien der Perfektionierung und Das vermessene Leben – wird sich in diesem Vortrag auf die Spuren des Unbewussten begeben und nachgezeichnet, wie es sich in den Narrativen von Probanden gleichermaßen zum Ausdruck bringt, aber auch, z.B. in der Verneinung, verhüllt wird. Auf der Basis des entsprechenden methodischen Designs und der metapsychologischen Konzeption unserer Projekte soll ferner das komplexe Wechselspiel von intrapsychischer Disposition und äußerer Realität in den Blick genommen werden und anhand von ausgewählten Fallvignetten illustriert werden.
Szene – Sequenz – Narration. Erkenntnisperspektiven psychoanalytischer und qualitativ-rekonstruktiver Forschung
Methodologien qualitativ-rekonstruktiver Sozialforschung konvergieren bei aller Diversität in der Einsicht, dass Subjektivität und ihre Bedingungsmomente nicht einfach nur erfragt werden können, sondern rekonstruiert werden müssen. Denn nicht nur in einem abstrakten Sinne realisieren sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in vielerlei Hinsichten ‚hinter dem Rücken‘ der Subjekte, sondern sie konkretisieren sich auch in lebensgeschichtlichen Mustern, die nur bedingt bewusst gesteuert sind. Zugleich unterscheiden sich die Konzeptionen des Nicht-Bewussten und die methodologisch wirksamen Prämissen, weshalb ihr Handeln oder Sprechen mehr oder noch anderen Sinn hat, als die Akteure annehmen. Im Vortrag werden im Lichte dessen Erkenntnisperspektiven und einschlägige methodische Zugänge diskutiert, die das Verborgene im Sichtbaren, das Unbewusste in den Oberflächenphänomenen über die Analyse von Szenen, Sequenzen oder Narrationen zu fassen versuchen.
Latentes und Unbewusstes
Wir würden in unserem Beitrag gerne der Beziehung zwischen einerseits den über die Tiefenhermeneutik herausgearbeiteten latenten Sinndimensionen und andererseits dem (dynamischen) Unbewussten nachgehen. Erstens soll es darum gehen, die Lorenzersche Konzeption des Szenischen und der Interaktionsformen mit Ansätzen zu konfrontieren, die das Unbewusste als radikale Alterität denken. Zweitens soll herausgestellt werden, dass die Beziehung zwischen Latentem und Unbewusstem stets eine theoretische Konstruktion darstellt und diese Beziehung sich auch bei verschiedenen Materialtypen kategorial unterscheidet.
Wiederholungsdrang – The Urge to Repeat in a Cultural Analysis with Drive
“[Drives], understood as psychic, motivational, forces, become organized as such through interactions within a psychic field consisting originally of the mother-child (psychic) unit.” This statement by Hans Loewald (1971) points to the strong parallels between him and Alfred Lorenzer, who had embarked on his project of a psychoanalytic cultural analysis around the same time. Particularly Loewald’s work on Eros, the Love/Life Drive, allows me to unfold in this paper my own take on cultural analysis based on Lorenzer’s work.
According to Loewald, the Love/Life Drive arises from the child separating out of the caregiver-child unit as “an urge towards re-establishing the original unity” (Loewald, 1951). Its restitutive orientation opens a field of communication in which the ego strives “to keep itself connected with the world from which it is differentiating itself” (Lear, 1996, p. 681). Yet, with communication replacing this original unity, Eros must ultimately fail. As Jonathan Lear (1996) writes with reference to Aristophanes: “eros functions as a resistance to ascent.”
It is this restitutive-but-failing orientation of Eros that I also find in Lorenzer’s works. Here, however, it takes the form of two contradictory (Freudian) positions existing side-by-side: “Where It was, I shall be” and “The Ego is not the Master in its own house.” In line with Loewald, the conflict between the two can be turned productive. Hence, while any straightforward attempt at bringing the unconscious under the aegis of the ego must be in vain, what arises from the urge to do so repeatedly is an‘erotic’ truth. “[T]he love of truth cannot be isolated from the passion for truth to ourselves and truth in human relationships,” writes Loewald (1970), and this, I claim, holds true for cultural analysis as well.
References
Wo gesprochen wird, wird übertragen. Gesprächstexte und Szenen in der sozialpsychologischen Forschung
Die vorgestellte Methode eignet sich zur Auswertung und Interpretation transkribierter Gesprächstexte, die im Rahmen eines themenzentrierten Interviews gewonnen wurden. Sie besteht darin, dass gleichwertig mit dem Inhalt des Gesagten die Beziehung zwischen Forscher:in und Erforscht:em analysiert wird. Methodologisch basiert sie auf der Annahme, dass Subjekte auf der Grundlage von Bedeutungen handeln (symbolischer Interaktionismus), die sich immer auch unbewusst und psychodynamisch motiviert konstituieren (Psychoanalyse). Wo gesprochen wird, wird übertragen. Die Übertragung zeigt sich in der Gestaltung der Forschungsbeziehung (Szenen) ebenso wie in der Form und Gestalt des Sprechens. Daher wird Wert gelegt auf die Validierung der szenischen Befunde am Text und umgekehrt. Für die Auswertung ist eine Interpretationsgruppe und/oder psychoanalytische Forschungssupervision erforderlich. Erfasst wird nicht „das Unbewusste“, weder im individuellen noch im kulturellen Sinn, sondern in Bezug auf das erforschte soziale/kulturelle Thema konflikthafte Beziehungs- und Bedeutungsfiguren. Die komplexe Gesellschafts- und Sozialisationstheorie Alfred Lorenzers aus den siebziger Jahren wird nicht für erforderlich gehalten, um diese Methode in der sozialpsychologischen und kulturwissenschaftlichen Forschung anzuwenden.
„Allerdings habe ich das Bild nicht sexuell interpretiert.“ Zu Sexualmoral im Kontext von #MeToo forschen
Die Hashtagkampagne #MeToo entzündete 2017 eine weltweite Debatte, die als historische Zäsur im gesellschaftlichen Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen und geschlechtsspezifischen Machtungleichheiten gehandelt wird. Wird in der Sexualitätsforschung vielfach ein Prozess der Enttraditionalisierung westlicher Sexualkultur und mithin ein Veralten regulativer, auf Verboten basierender Sexualmoral beschrieben, so zeigt sich (nicht nur) in der #MeToo-Debatte, dass diese historische Verschiebung offenbar nicht reibungslos vor sich geht. Mein Forschungsprojekt widmet sich Spannungsfeldern, die sich in ästhetisch-medialen Produktionen im Kontext der #MeToo-Debatte abzeichnen und fragt nach unbewussten Dynamiken, welche derzeit im Bereich sexualmoralischer Grenzziehungen wirksam sind. Der Vortrag wird diesen kulturwissenschaftlichen Zugang vorstellen und anhand eines Beispiels konkretisieren. Ausgangspunkt ist dabei eine Online-Petition an das Metropolitan Museum New York gegen die Ausstellung des Gemäldes Thérèse rêvant (1938) von Balthus, „that is“ – wie es heißt – „undeniably romanticizing the sexualization of a child“. Die Forderung der Petition, das Gemälde aus der Dauerausstellung zu entfernen, wirft unweigerlich die Frage nach der Legitimität von zensurierenden Maßnahmen auf. Inwiefern ‚Zensur‘ in der gegenwärtigen Sexualkultur einen allergischen Punkt“ (Adorno) bilden kann, möchte ich anhand studentischer Stellungnahmen aufzeigen.