Biografische Erfahrung und engagierte Wissenschaft: Wer spricht da (wie, über was, weshalb) – und wer nicht?


Ein Abendevent am 21. Oktober 2022 ab 19:30 Uhr an der IPU Berlin (Haus 91b, Raum 04). Mit Hijran Elhozayel, Christine Kirchhoff, Kira Kosnick, Lena Inowlocki und Reyhan Şahin.

„Die biografische Wahrheit ist nicht zu haben“, schrieb Sigmund Freud im Jahr 1936 an Arnold Zweig. Jede Biografie schwankt zwischen vermeintlicher Wahrheit und konstitutiver Verfehlung, subjektiver Deutung und sozialer Tatsache, Rekonstruktion und Konstruktion, Wieder(er-)finden und Nachträglichkeit und lässt uns unweigerlich auf die Frage nach der menschlichen Zeit stoßen. Das Zuschreiben von biografischer Bedeutung fixiert Vergangenheit nicht, sondern zeigt ihr Fortwirken in der Gegenwart, verschafft uns Orientierung im Hier und Jetzt. Nur dann kann auch politisches Handeln möglich werden, wenn wir uns die Frage stellen, welche Biografien wir morgen von uns erzählen wollen.

Welche Geschichten und materiellen Fragmente wollen wir als Zeitkapseln unseren zukünftigen Ichs, Mitmenschen und Folgegenerationen als Material für unsere Biografien hinterlassen? Haben wir das überhaupt in der Hand? Es stellt sich die Frage, wer eigentlich die Macht über meine Biografie hat. Aber auch: welche Macht die Biografie über mich hat. Wie sie unser Denken, Fühlen und Handeln prägt, auch im Wissenschaftlichen. Die Bedeutung biografischer Erfahrungen für die Art und Weise, wie wir wissenschaftlich arbeiten, was wir erforschen (und was nicht), wurde in kritischer, nicht zuletzt feministischer Perspektive u.a. mit „situiertem Wissen“, „Standpunkttheorien“, „starker Reflexivität“ programmatisch zu fassen gesucht.

Und was verändert sich, wenn wir uns dessen bewusst werden? Aus welcher Perspektive handeln, sprechen und forschen wir als Gesellschaft oder Mitglieder bestimmter sozialer Gruppen? Welchen Biografien verschaffen wir Gehör und verändern so nicht nur unseren Blick auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart? Wie verändert sich dieser Blick, wenn die Biografien von Frauen*, POC, Migrant*innen, Queeren, Neurodiversen etc. die Identität einer Gesellschaft und ihr wissenschaftliches Tun zunehmend mitbestimmen? Welche Biografien sind noch nicht erzählt? Sollten wir über Anderes reden oder anders reden?

Diesen Fragen wollen wir in dieser Abendveranstaltung nachspüren:
 

  • Mit einem kurzen Einführungsvortrag der Soziologin und Biografieforscherin Prof. Dr. Lena Inowlocki (Frankfurt/Main) mit dem Titel Take a seat on the wild side,
  • in einer Podiumsdiskussion mit der Sprach-, Migrations- und Rassismusforscherin, Aktivistin, Buchautorin und Rapperin Dr. Reyhan Şahin (aka Lady Bitch Ray; Bremen), der Kultur- und Sozialanthropologin Prof. Dr. Kira Kosnick (Frankfurt/Oder) und der IPU-Studentin Hijran Elhozayel. Die Moderation übernimmt Prof. Dr. Christine Kirchhoff.
  • Bei gutem Wein und ambitionierter Musik im Anschluss.


Der Abend wird organisiert von Niclas O‘Donnokoé und Phil C. Langer.

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