Phantasmatische Aspekte der Covid-19-Pandemie

IPU-Professorin Insa Härtel liest Philipp Sarasins Fremdkörper/Infektionen aus dem Jahr 2004 und zieht daraus Schlüsse auf die aktuelle Covid-19-Pandemie. Die Relektüre findet im Rahmen der Initiative Stay in touch statt.

Die Initiative Stay in touch hat eine Reihe Kulturwissenschaftler/innen, etwa des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften/Kunstuniversität Linz in Wien (IFK), der Kunstuniversität Linz, der HU Berlin, der IPU Berlin Kulturwissenschaften, der University of Mons, zusammengebracht, um Räume des gemeinsamen Nachdenkens zu eröffnen: Nach und nach wird, so der Wunsch, eine „Bibliothek“ mit Texten zusammengestellt, deren Relektüre in Pandemiezeiten besonders lohnend erscheint. Bereits zusammengetragen wurden Beispiele aus rund 2500 Jahren, die sich u.a. mit Fragen der Ansteckung, Hygiene, Sorgearbeit, Reinheit, Bellizismus, Diskriminierung oder Allianzbildung beschäftigen. Versehen mit aktuellen Kommentaren und Bezugnahmen auf die derzeitige Situation, werden diese Texte online zur Verfügung gestellt: http://stay-in-touch.org/ Die Spanne reicht bislang von Thykydides „Der Peloponnesische Krieg“ (430 v.Chr.) bis zu Alexis Shotwells „Against Purity. Living ethically in compromised times“ (2016).

In diesem Rahmen habe ich mir einen Text des Schweizer Historikers Philipp Sarasins aus 2004 vorgenommen: Fremdkörper/Infektionen handelt von Anthrax als Medienvirus, das heißt, von den real-tödlichen wie imaginären Effekten jener 2001 zirkulierenden Briefe, die Milzbrandsporen enthielten. Trotz der zurzeit deutlich anders gelagerten Situation kann diese „Anthrax“-Analyse, wie ich meine, dazu dienen, phantasmatische Aspekte der Covid-19-Pandemie zu erhellen. Sarasin skizziert eine erschreckende Geschichte der Infektionsnarrative, die schließlich die (angeblich) infizierten Kranken potenziell selbst mit dem „Erreger“ identifiziert, mit dem Ziel einer „Säuberung“ – bis hin zu „Desinfektionsduschen“ für Juden in Auschwitz. Hierbei werden letztlich auch verhängnisvolle phantasmatische Annahmen vom ansteckenden „fremden Eindringling“ wirksam, der im rassistischen Ergebnis als eine tödliche, weil infektiöse Gefahr erscheint. Die Bedrohung der vermeintlich harmonisch-„heilen“ Gemeinschaft wird phantasmatisch in Figuren verschwörerischer, infektiöser oder auch beneidenswert genießender „anderer“ verkörpert – was, in differenten Ausprägungen, auch in der derzeitigen Schuldzuschreibungen eine Rolle spielt.

Darüber hinaus spricht Sarasin eine perverse jouissance an, den als monströs imaginierten anderen – im Fall „Anthrax“: den „arabischen Terroristen“ – wie eine Mikrobe zu vernichten. Doch gibt es nicht gerade auch in vernetzten Gesellschaften ebenfalls eine Lust, so heißt es weiter, „mit der Idee der globalen Infektion zu spielen“, eine Lust an Infektion, welche im Grunde längst stattgefunden hat? Es sind u.a. diese Andeutungen, die mir Sarasins Text heute besonders interessant erscheinen lassen, weil er damit, wie nebenbei, die – im Nachdenken über Angst, Unsicherheit oder Einsamkeit – häufig vernachlässigte Frage nach dem Genießen aufwirft. Kann nicht z.B. das, was sich als Schutz gegen eine verbotene Handlung darstellt, wie schon Freud gewusst hat, immer auch deren Wiederholung implizieren – und sei es in Dynamiken des Ausdehnens der Gefahrenzonen, der endlosen Beschäftigung mit dem, was droht, oder auch des Klopapiers im Sinne einer eben nicht nur „beängstigte[n] Arbeit“ an der, in Weismüllers Worten, „Sicherung der Fundamentaldifferenz (gegenüber den Fäzes)“?

Um diesen Aspekt noch ein wenig weiterzuspinnen: Mit der Infektionsgefahr verbunden wäre dann nicht nur die Bekämpfung einer Entgrenzung, der Versuch einer „Eindämmung“ der imaginär von außen kommenden Gefahr, sondern auch eine Art Sehnsucht nach dem Verschwimmen von Grenzen, nach einer „übergriffigen“ Lust. Wie sie z.B. im – gerade wieder gefährlichen – Küssen verbildlicht werden kann, das mich als eine Körpergrenzen sexuell überschreitende Handlungsform schon länger interessiert. Denn ein Kuss stellt – so Lacroix – einen „Einbruch“ dar, „Identitäts“grenzen werden offenbar als durchlässig oder durchlöchert erkennbar. In den derzeit zu Tage tretenden körperlichen wie geographischen Grenzziehungsimpulsen kreist man dann phantasmatisch immer auch um eine implizite Lust an der Grenzüberschreitung, die sich als Kehrseite der ausgesprochenen Programmatik erweist. – Und scheinen „andere“ über das Genießen, auf das man selbst zu verzichten hat, längst zu verfügen, so sind sie in dieser Logik zu bekämpfen, zu denunzieren.

Prof. Dr. Insa Härtel leitet an der IPU Berlin den Masterstudiengang Kulturwissenschaften. In ihrer Forschung widmet sie sich unter anderem Heilsversprechen und den Fragen, wie diese gegenwärtig gehandelt und welche kulturellen Dynamiken dabei wirksam werden. Im Podcast 50 Minuten war sie zu Gast in der Folge zum Thema Kultur.