»was sich entzieht«

Veranstatungsreihe der krIPU im Wintersemester 2025/26


Wie sich dem, „was sich entzieht“ (Witte) in psychoanalytischer und kritisch theoretischer Hinsicht genähert werden kann, wird in unterschiedlichen Aspekten Gegenstand der Veranstaltungsreihe der krIPU im Wintersemester 2025/26 sein. Wir freuen uns auf erkenntnisreiche Workshops und Vorträge, die sich unter anderem mit dem Verhältnis von Kant, Adorno und Bion, dem unbewussten Subjekt in der (lacanschen) Psychoanalyse und Objekt der Gesellschaftstheorie, Sonja Wittes Denken in Widersprüchen sowie einer Kritischen Theorie des Leidens widmen werden.

Theodor W. Adorno weist auf den Widerspruch hin, dass das Nichtidentische, also das „von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene“, eben doch nur mithilfe begrifflichen Denkens zu seinem Recht kommen könnte. Das, was Adorno als Anspruch an die Philosophie formuliert – die „volle, unreduzierte Erfahrung im Medium der begrifflichen Reflexion” – ist daher kein natur-mythischer Kampf gegen das Denken, sondern die Aufforderung zu dessen schonungsloser Reflexion und Selbstaufklärung. Hierhin kann durchaus ein emphatisch aufgenommener Anspruch, den auch die Psychoanalyse an sich selbst stellt, erkannt werden. Einem „Sichüberlassen" (Adorno) an den Gegenstand in der Philosophie entspricht in der Psychoanalyse die Forderung nach gleichschwebender Aufmerksamkeit, in der man sich ebenfalls zum Schauplatz einer Erfahrung macht. Beide sind dadurch jedoch noch kein beliebiges Anhängen an alles Mögliche, sondern sie gehorchen einer „inneren Nötigung“ (Adorno) des Gegenstandes, der zur Deutung treibt.

Diesem Treiben nachzugeben, das für Adorno kein weniger, sondern ein Mehr subjektiver Anstrengung bedeutet und gleichzeitig reflexiv einzuholen, dass Deutungen immer auch einer „notwendigen Paranoia“ (Witte) folgen, stellt wohl die einzige Möglichkeit dar, gegen die Verhältnisse anzudenken. Dadurch entsteht die Möglichkeit, zur Erfahrung (die mehr ist als intellektuelle Annahme des Verdrängten) zu kommen, dass „die Gesellschaft […] in der wir leben […] ganz offensichtlich durch eine Unterdrückungszeremonie, die einen Unterdrückungsprozeß widerspiegelt, sich bestätigt und an der Macht hält“ (Heinrich). Zweierlei Tendenzen, die allerdings zusammenfallen, nötigen daher zur Auseinandersetzung mit dem Denken des Nicht-Denkbaren: Einerseits um der eskamotierenden Tendenz der Identifizierung, die der Gleichmachung des Tauschwerts entspricht, etwas entgegenzusetzen und andererseits, weil die verdrängte Qualität, auf eine Weise zurückkehrt, die noch bedrohlichere Abwehrreaktionen hervorruft, als in der initialen Verdrängung merklich ist. Letzteres lässt sich in der Sehnsucht nach Identität und dem Hass auf jegliches Differenzierendes erahnen, der sich gegenwärtig an allen Ecken Bahn zu brechen scheint.
 

Die krIPU ist eine studentische Initiative an der IPU Berlin, die sich regelmäßig trifft und Veranstaltungen organisiert, um die Möglichkeiten und Grenzen einer gesellschaftskritischen und politischen Psychoanalyse, ihre überschaubare Geschichte und ihre ungewisse Zukunft zu diskutieren. Interessierte sind eingeladen, sich in Verbindung zu setzen.

Gefördert durch den StuRa und die Freunde und Förderer der IPU Berlin e.V.

Details

11.00 bis 19.00 Uhr (mit Pausen), Haus 3b-04, Stromstr. 3b

Workshop mit Till Gathmann (Berlin)

Anmeldung: kripu@ipu-berlin.de

Die Texte erhalten Sie nach der Anmeldung.

Sprechen Wilfried Bion und Theodor W. Adorno durch ihre Werke zueinander? Ist es vielleicht möglich, dass die als notorisch schwierig geltenden Autoren sich durch den jeweils anderen besser verstehen lassen? Ein möglicher Weg, sich darüber zu verständigen, mag ihr gemeinsamer Bezug auf Kant und dessen Begriff des Ding an sich zu sein: für beide Autoren, so könnte man sagen, bildet er einen Fixpunkt, von dem aus die Konzeptionen sich entwickeln und kontrastieren lassen können. Kant hatte das Ding an sich als erkenntniskritischen Grenzbegriff eingeführt, um die Stelle des durch Wahrnehmung und Vorstellung nicht Einzuholenden zu markieren – »die Wirklichkeit, wie sie unabhängig von aller Erfahrungsmöglichkeit, für sich selbst besteht« (Rudolf Eisler). Adorno spricht vom Ding an sich »als der Bedingung der Möglichkeit von Identifikation«, als auch von dem, »was der kategorialen Identifizierung entschlüpft«: dem Nichtidentischen – »ein Werdendes, kein Seiendes«, eine Bewegung hin zu etwas. Dem liegt ein emphatischer Erfahrungsbegriff zugrunde, der mit dem korrespondiert, was Bion als »O werden« bezeichnet. Den Begriff des Ding an sich hingegen führt Bion ein, um seine metapsychologische Konzeption zu beschreiben, seinen Versuch, eine Theorie des Denkens zu entwerfen. Er steht so nicht als Resultat des reflexiven Denkens, sondern ontogenetisch am Anfang der Entstehung des psychischen Raums selbst: Die Beta-Elemente, aus denen seiner Theorie nach Alpha-Elemente – träum- und denkbare Sinneseinheiten – entstehen können, werden »nicht als Erscheinungen empfunden, sondern als Dinge an sich«: sie eignen sich nicht zum Denken, wohl aber zur »projektiven Identifikation« (Melanie Klein). Der Workshop soll einen Raum öffnen, sich den Begriffen und Denkbewegungen Bions und Adornos zu widmen. Im Zuge dessen mag sich herausstellen, ob es möglich ist, Psychoanalyse und Philosophie auf diese Weise anzunähern. Leider ist diese Diskussion nicht ganz voraussetzungslos – der Grundgedanke aber ist es. Zu versuchen wäre, ihn aus der dichten Sprache der beiden Autoren gemeinsam herauszulösen. Menschen, die ein massives Trauma erfahren haben, stehen vor der schwierigen Aufgabe, das Erlebte zu verarbeiten. Das Geschehnis überwältigt oft die Fähigkeit der Psyche, es voll wahrzunehmen und in ein Narrativ einzuordnen. Manchmal dauert dies eine lange Zeit – Monate, Jahre und Jahrzehnte.

Till Gathmann ist freischaffender Gestalter und Künstler und lebt und arbeitet in Berlin. Er promoviert im Feld der künstlerischen Forschung an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Zum Thema hat er einen Essay in der Zeitschrift sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik, Heft 24/2024 verfasst. Anmeldung Es wird mehrere Pausen geben. Die Texte erhalten Sie nach der Anmeldung.

19.00 Uhr, Stromstr. 2, Hörsaal 1

Vortrag & Diskussion mit Sandrine Aumercier & Frank Grohmann


Eine Anmeldung ist nicht nötig.

Die Freud'sche Hypothese des Unbewussten ist untrennbar von einer Kritik des Subjekts, sowie die Marxsche Analyse der Kategorien der politischen Ökonomie auf die Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsform als solche abzielt. Die doppelte Tendenz, einerseits die Bildungen des Unbewussten zu psychologisieren, andererseits die Kategorien des Kapitalismus zu soziologischeren, stellt auf beiden Seiten ein Hindernis auf dem Weg zu einer radikalen Kritik der modernen Gesellschaft dar. In den beiden Ansätzen zur Kritik spiegelt sich die moderne Trennung von Subjekt und Objekt bzw. von Individuum und Gesellschaft wider. Keine Synthese kann den methodologischen Riss dieses Ausgangspunktes überspringen. Ausgehend von Robert Kurz, Sigmund Freud, Jacques Lacan und Theodor W. Adorno werden wir einige Sackgassen der falschen Synthese darstellen und versuchen, die Frage des Verhältnisses von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik neu aufzuwerfen.

Sandrine Aumercier hat in Paris Literaturwissenschaft, Philosophie und Psychologie studiert. Heute lebt sie in Berlin, wo sie als Psychoanalytikerin, freie Autorin und Übersetzerin tätig ist. Von 2006 bis 2022 Mitgliedschaften in den psychoanalytischen Gesellschaften "Espace analytique", "Freud-Lacan-Gesellschaft" und "Psychoanalytische Bibliothek Berlin". 2018 war sie an der Gründung der Offenen Sprechstunde an der PsyBi Berlin mitbeteiligt. Sie ist Redaktionsmitglied des Verlags Crise & Critique. Veröffentlichungen zum Thema Geschichte der Psychoanalyse, Gesellschaftskritik und Ökologie. Zuletzt erschien in französischer und deutscher Sprache Die Ernergieschranke des Kapitals (2021 und 2023).

Frank Grohmann hat in Frankfurt am Main und in Kassel Germanistik und Sozialwesen studiert und ist in Tübingen als psychoanalytischer Sozialarbeiter tätig gewesen. Beginn der eigenen psychoanalytischen Praxis in Kopenhagen, wo er die psychoanalytische Einrichtung "Freuds Agorá" und die dort angeschlossene psychoanalytische Beratungsstelle "En anden snak" mitbegründet hat. Heute lebt er in Berlin, wo er weiterhin als Psychoanalytiker in freier Praxis arbeitet. 2020 erschien sein Buch Die Eigenart der Psychoanalyse im Psychosozial-Verlag. Zusammen haben die beiden Vortragenden 2018 die psychoanalytische Zeitschrift Junktim mitbegründet. 2020 haben sie das monatliche Seminar "Psychoanalyse und Kapitalismus" im Café Plume (Neukölln) und den Blog "Grundrisse — Psychanalyse et capitalisme" ins Leben gerufen. 2024 erschien ihr gemeinsames Buch Quel sujet pour la théorie critique? in Frankreich.

19.00 Uhr, Haus 3b-04, Stromstr. 3b

Podiumsdiskussion mit Melanie Babenhauserheide, Volker Beeck, Benedikt Wolf, Anne Dölemeyer (Moderation)

Eine Anmeldung ist nicht nötig. Getränkeausschank im Anschluss.


— „Deutung richtet sich […] wesentlich auf ein Noch nicht: Auf das, was sich in der Gegenwart als bisher Uneingelöstes geltend macht.“

(Sonja Witte: Symptome der Kulturindustrie)

Der Wunsch, etwas in der Schwebe zu halten. Sonja Wittes kritisches Denken in Widersprüchen 19.00 Uhr, IPU Berlin, Haus 3b, Raum 04 Keine Anmeldung notwendig. Getränkeausschank im Anschluss. Podiumsdiskussion mit Melanie Babenhauserheide, Volker Beeck, Benedikt Wolf, Anne Dölemeyer (Moderation) — „Deutung richtet sich […] wesentlich auf ein Noch nicht: Auf das, was sich in der Gegenwart als bisher Uneingelöstes geltend macht.“ (Sonja Witte: Symptome der Kulturindustrie) Das gesellschaftskritische Denken der 2024 verstorbenen psychoanalytisch orientierten Kulturwissenschaftlerin Sonja Witte zielt auf Veränderungen ab. Anhand verschiedener Themenfelder wie dem heutigen Nachleben des Nationalsozialismus, der Sexualmoral und der Kulturindustrie arbeitete sie Widersprüche heraus, ging Rätseln, Brüchen und verleugneten Kehrseiten nach. Gerade das, was auf den ersten Blick harmlos oder nebensächlich erschien, deutete und hinterfragte sie. Mit Neugierde, Präzision, Faszination und Humor. An diesem Abend wollen wir anhand von Zitaten aus Sonja Wittes Texten ins Gespräch kommen und so einen Eindruck von ihrem Denken entstehen lassen. Denn „Denken findet ja nie nur in einzelnen Köpfen statt, sondern operiert auch mit den Gedanken anderer, bezieht sich auf andere“ (Witte).

Anne Dölemeyer, promovierte Politikwissenschaftlerin und inzwischen freiberuflich als Moderatorin und Mediatorin unterwegs, kannte Sonja Witte bereits seit der Grundschulzeit und war seitdem mit ihr befreundet. Aus einer anderen Theorietradition und einer anderen Wissenschaftsdisziplin kommend, lernte sie Sonja Wittes wissenschaftliches Denken insbesondere im Zuge eines intensiven Austauschs in der parallel laufenden Promotionsphase kennen und schätzen.

Benedikt Wolf arbeitet als Literaturwissenschaftler an der Universität Bielefeld. Er hat Sonja Witte vor einigen Jahren bei einem Vortrag im Schwulen Museum kennengelernt und sich daraufhin regelmäßig zum Biertrinken, zum Diskutieren eigener und fremder Texte und zum persönlichen Gespräch mit ihr verabredet.

Melanie Babenhauserheide ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld angestellt. Ihr Denken ist erheblich durch die Kritische Theorie sowie psychoanalytische Subjekttheorien beeinflusst, was sie seit den 90er Jahren mit Sonja Witte verbunden hat, die ihr über all die Jahre eine gute Freundin, Mitstreiterin in politischen Gruppen, Kollegin in Lehre wie Forschung und zeitweilig auch Mitbewohnerin war. Beide haben parallel über unterschiedliche Themen promoviert und sich dann beim Begriff der Kulturindustrie getroffen. Beide haben in den letzten Jahren kulturelle Konflikte um Sexualmoral erforscht und gerne zusammen darüber diskutiert.

Volker Beeck lebt in Berlin und arbeitet in der ambulanten Behindertenhilfe. Sonja Witte war eine enge Freundin. Seit 1997 beschäftigen sich beide in vielen außer-universitären Zusammenhängen wie der Antinationalen Gruppe Bremen, Les Madeleines, kittkritik und der Redaktion der Zeitschrift Extrablatt - Aus Gründen gegen fast Alles schwerpunktmäßig mit der Kritik des Antisemitismus, Antizionismus, der deutschen Vergangenheitspolitik und des herrschenden Geschlechterverhältnisses, sowie verschiedenen Aspekten von Sexualität und Sexualmoral. Als Teil der Gruppe kittkritik brachten sie 2008 gemeinsam das Buch Deutschlandwunder - Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur heraus.

19.00 Uhr, Hörsaal 1, Stromstraße 2

Vortrag & Diskussion Philip Hogh (Kassel)

Eine Anmeldung ist nicht nötig.


Ethischer Materialismus. Kritische Theorie des Leidens (Philip Hogh) 19.00 Uhr, Stromstr. 2, Hörsaal 1 Vortrag & Diskussion Philip Hogh (Kassel) — Ausgehend von Adornos Begriff der Naturgeschichte (und in Auseinandersetzung mit u.a. mit neoaristotelischen Ansätzen, Hegel, Marx und der Psychoanalyse) entwickelt der Vortrag eine Kritische Theorie des Leidens, für die Leiden als Forderung menschlicher Wesen nach einem anderen Leben verstanden wird. Dabei wird Leidensfähigkeit zwar als für für Menschen als selbstbewusste gegenständliche Gattungswesen grundlegenden Erfahrung aufgefasst, das faktische Leiden jedoch immer als das Leiden bestimmter menschlicher Wesen unter historisch und gesellschaftlich wandelbaren Lebensformen verstanden. Der normative Fluchtpunkt dieses »ethischen Materialismus« liegt dabei, einer Grundintuition Kritischer Theorie folgend, in der Abschaffung unnötigen Leidens.

Philip Hogh ist Professor für praktische Philosophie an der Universität Kassel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus, Naturphilosophie (insbesondere bezüglich des Klimawandels und ökologischer Zerstörung) und Geschichtsphilosophie. Der Vortrag erörtert im Rahmen der empirischen Antisemitismusforschung, inwiefern israelbezogener Antisemitismus auf dem klassischen Anti-Judaismus fußt. Judenfeindschaft ist eine kulturelle Denk- und Gefühlskategorie, und Bildung ist kein Garant gegen ihre toxische Wirkung. Merkmale des gebildeten Antisemitismus, seine opportune Adaptions- sowie Affektlogik werden kritisch erörtert.