Perspektiven qualitativen Forschens – zwischen Anspruch und Wirklichkeit


KKC-IPU event series in the summer semester at the IPU Berlin

Qualitative Forschung verspricht viel: eine tiefgehende Auseinandersetzung mit psychosozialen Wirklichkeiten und Dynamiken, die Eröffnung differenzierter Perspektiven auf komplexe Phänomene, die Anerkennung der „lived experience“ der Forschungspartner*innen, die systematische Berücksichtigung forschender Subjektivität(en), die diskursive Repräsentation marginalisierter Gruppen, mit der Forschung einen emanzipatorischen Beitrag zu gesellschaftlichem Wandel und sozialer Gerechtigkeit zu leisten.

Wie werden wir in unserer Forschungspraxis den damit einhergehenden epistemologischen und method(olog)ische Anforderungen gerecht? Programmatische Forderungen nach einer „starken Reflexivität“ und dem stärkeren Einbezug von Emotionen und Affekten umsetzen, erweist sich als tricky. Partizipative und transdisziplinäre Ansätze bringen Zumutungen für den etablierten Forschungsdiskurs mit sich, die auf Abwehr stoßen. Die Arbeit in Interpretationsgruppen wird oft als eine Möglichkeit der methodischen Kontrolle gesehen – wobei die damit einhergehenden Annahmen der Demokratisierung von Wissensproduktion und der kollaborativen Generierung eines multiperspektivischen und so „besseren“ Wissens oft unreflektiert bleiben. In politisch, emotional und normativ aufgeladenen Forschungsfeldern (nicht zuletzt rund um Trauma, Hegemonie und Gewalt) kommen zudem methodologisch und ethisch herausfordernde Vorstellungen zum Umgang mit Verletzlichkeit, Anerkennung, Erinnerung und Zeugenschaft in qualitativen Forschungssettings dazu.

In der gemeinsamen Veranstaltungsreihe von IPU und KKC setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie mit diesen methodischen Anforderungen in der konkreten Forschungspraxis umgegangen wird, wie wir als Forschende mit ihnen ringen (und an ihnen scheitern können). Anhand paradigmatischer Projektbeispiele reflektieren wir methodologische Grundlagen sowie die damit verbundenen forschungspraktischen Gestaltungsspielräume und vielfachen Spannungsfelder. Wir möchten Sie einladen, mit uns über die Perspektiven, die sich für unsere qualitative Forschungscommunity entfalten lassen, ins Gespräch zu kommen.

Programm

Prof. Dr. Phil Langer (Internationale Psychoanalytische Universität Berlin): Es ist professionell, Gefühle zu haben – aber alles andere als einfach, mit Affekten und Emotionen erkenntnisproduktiv zu forschen

 

Affekte und Emotionen von Forschenden sind konstitutiver Bestandteil ihres Forschungshandelns und bilden eine wertvolle Datenquelle für verschiedene Traditionen der qualitativen Sozialforschung. Ausgehend von dieser Grundüberzeugung, sich im Begriff einer „strong reflexivity“ zusammenfassen lässt,entwickle ich in dem Vortrag weiterführende Gedanken zu einem erkenntnisproduktiven Umgang mit Affekten und Emotionen in qualitativer Forschung, die ich zusammen mit meinen Kolleginnen Andrea Ploder und Angela Kühner entwickelt habe. Diskutiert wird das Verhältnis von starker Reflexivität, verletzbaren Forschenden und „academic kindness“, durch das qualitative Forschung immer auch zu einem Ort der Subjektwerdung avanciert. Weil stark reflexive Forschung die Relevanz von Forschungsbeziehungen besonders sichtbar macht, geht es auch um die Eröffnung von Perspektiven einer relationalen Forschungsethik und lustvoll gestalteten Hochschullehre, die sich am Erkenntnispotenzial forschender Subjektivität orientiert.

Vor Ort: IPU Berlin, Stromstr. 2, Hörsaal 1

Zoom:  https://ipuberlin.zoom-x.de/j/67891615322

Meeting-ID: 678 9161 5322 | Kenncode: 194448

Dr. des. Constanze Oth (Johann-Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main): „Die Verwirrung bleibt, die ist nicht zu lösen.“ Vom Anspruch von Interpretationsgruppen und was davon für demokratischere und bessere Wissensproduktion in der Wirklichkeit bleibt

Qualitatives Datenmaterial in Interpretationsgruppen und Forschungswerkstätten auszuwerten, ist mittlerweile zu einem Qualitätsstandard in der qualitativen Forschung avanciert. Bisher wissen wir allerdings bemerkenswert wenig darüber, was in solchen Gruppen tatsächlich geschieht. In dem Vortrag möchte ich einen Einblick in die Theorie und Praxis der Gruppeninterpretationspraxis geben und deren Selbstverständnisse einerseits, die Widersprüche andererseits betrachten. Aktuell ist das Qualitätsargument des besseren Wissens gegenüber der Demokratisierung des Wissens und der Absage an den Mythos des männlichen Genies in den Vordergrund gerückt. Gemeinsam möchte ich diskutieren, welche Herausforderungen mit dieser Entwicklung für die kollektive Erkenntnispraxis verbunden sind und inwiefern sich die Konzepte Agieren und Handeln (Alice Pechriggl) für die Frage, wie wir eigentlich gemeinsam Wissen produzieren wollen, als hilfreich erweisen können.

Zoom:  https://ipuberlin.zoom-x.de/j/67891615322

Meeting-ID: 678 9161 5322 | Kenncode: 194448

Prof. Dr. Carol Kidron (University of Haifa, Israel): Qualitative research in the context of trauma and commemoration

 

This talk presents a self-reflexive and self-critical account of the author's methodological and moral dilemmas when undertaking qualitative research on second and third generation Holocaust descendant memory contextualized within the Israeli commemorative landscape. Focusing on my epistemological, ideological and methodological interpretive lens, I explore the way my three scholarly trajectories were shaped by: critical constructivism and hegemony theory; critical perspectives on trauma theory and pathologization; and my personal positioning as Holocaust descendant protective of survivor family silence and authenticity. I also consider the methodological challenges of accessing data on the predominantly silent embodied and emotive experience of transmitted Holocaust legacies and the no less problematic challenge of accessing the lived childhood experience of the now adult descendants, adults whose current experience has been framed for decades by the national socio-cultural narratives of Holocaust and post-Holocaust memory. Implications are raised pertaining to the politics of memory and memory scholarship and the way the politics of memory is forever entangled with formative ideological, emotive moral missionswhile data collection and analysis is forever grappling with issues of methodological reliability and validity. Moving beyond the micro case study of Israeli politics of memory to broader epistemological and ethical questions, the talk problematizes the way subjective moralistic scholarly and personal positions shape our analytical lens. 


Vor Ort: RUB Bochum, Universitätsstraße 150, GD E1/338

Zoom:  https://ruhr-uni-bochum.zoom-x.de/j/65390739660?pwd=eLBiXVLnxNoEWkklKO4WTub1TAlOHV.1

Meeting-ID: 653 9073 9660 | Kenncode: 628723

 

Dr. Ines Gottschalk (Ruhr-Universität Bochum): Heilsames Erzählen und Zeugenschaft im Kontext qualitativer Forschung: Was kann qualitative Forschung im Vergleich zu therapeutischen Settings (nicht) leisten?

 

Mit narrativ-biografischen Interviews lassen sich nicht nur Lebensgeschichten mitsamt ihren Krisen und Transformationen erheben und rekonstruieren. Den darin generierten Erzählungen wird darüber hinaus ein heilsames Potenzial für die Interviewten zugeschrieben. Insbesondere da, wo Interviewte Erfahrungen von Leid wie Gewalt und Trauma gemacht haben, lässt sich das Interviewsetting aus einer normativen Perspektive auch als Ort der Zeugenschaft und Anerkennung verstehen. Die interviewende Person ist dann in der Rolle des signifikanten Anderen, der nicht nur leidvolle Erfahrungen, sondern auch Momente der Resilienz und des Widerstands bezeugt. Das gilt für die Auswahl des Forschungsdesigns und der Interviewpartner:innen über das Momentum des Interviews selbst bis hin zur Datenauswertung und Darstellung der Ergebnisse. In all diesen Momenten lässt sichqualitative Forschung als Zeugenschafts- und Anerkennungspraxis verstehen. Ich argumentiere, dass die darin liegende Verletzlichkeit neben heilsamen Potenzialen auch das Risiko der Überforderung in sich trägt. Entsprechend werde ich neben Möglichkeiten, auch Anforderungen und Grenzen qualitativer (Biografie-)Forschung als Anerkennungs- und Zeugenschaftspraxen diskutieren und dabei auch Vergleiche zu therapeutischen Settings ziehen.


Vor Ort: RUB Bochum, Universitätsstraße 150, GD E1/338

Zoom: https://ruhr-uni-bochum.zoom-x.de/j/64201948160?pwd=jCKYnVoTg1uitOHWCtGf4j0WJjMyVT.1

Meeting-ID: 642 0194 8160 | Kenncode: 379517


Organisiert von: Dr. Ines Gottschalk KKC (ines.gottschalk@rub.de) und Prof. Dr. Phil Langer IPU (phil.langer@ipu-berlin.de)