Die IPU Berlin trauert um Prof. Dr. Heinrich Deserno, ehemaliger Professor und Leiter der psychotherapeutischen Hochschulambulanz. Deserno verstarb am 14. Februar 2023. Zum Gedenken seiner lesen Sie hier einen Nachruf von Prof. Dr. Lutz Wittmann.
Prof. Dr. med. Heinrich Deserno
* 17. September 1945 † 14. Februar 2023
Wie es Dich aus dem Leben gerissen
Reißen uns Gedanken und Worte
Ich staune in einen leeren Kopf hinein
Ein wundes Herz voll Dankbarkeit
Am vergangenen Dienstag traf uns gänzlich unvorbereitet die Nachricht von Heinrich Desernos plötzlichem Tod. Vielleicht kann dieser Nachruf ein Versuch sein, die Sprachlosigkeit, in welcher uns dies zurückgelassen hat, in Worte zu fassen.
Im Alter von 64 Jahren entschied sich Heinrich Deserno dagegen, nun des bevorstehenden Ruhestandes zu harren, und folgte stattdessen 2009 einem Ruf als Professor für Klinische Psychologie an die International Psychoanalytic University nach Berlin. Einen so klinisch erfahrenen, psychoanalytisch gebildeten, und wissenschaftlich versierten Lehrer zu haben, war ein großer Glücksfall für die ersten Generationen der Studierenden der neu entstehenden Berliner Universität. Aber Heinrich war nicht nur Lehrer und Wissenschaftler. Wie schon zuvor an seiner langjährigen Wirkungsstätte, dem Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, übernahm er die Leitung der aufzubauenden psychotherapeutischen Ambulanz. Wer die Hochschulambulanz betrat, der spürte, dass hier ein ganz besonderer Geist am Wirken war. Heinrich war nie in die Falle getreten, sich selbst für besonders wichtig zu halten, nur weil seine Aufgabe wichtig war. Er leitete die Ambulanz nicht mit ärztlicher Autorität, sondern mit seiner Persönlichkeit. Und er teilte. Seine klinische und institutionelle Erfahrung. Seine Weisheit und seine schier unbegrenzte Kenntnis der psychoanalytischen Literatur. Sein Mitgefühl ebenso wie seinen Humor.
Ich weiß nicht, ob Heinrichs plötzlicher Tod ihm Gelegenheit gewährte, sein Leben während seiner letzten Tage Revue passieren zu lassen, zu bilanzieren. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass auf seiner Liste, was in seinem Leben wichtig war, was wirklich gezählt hat, das Wort Beziehung ganz oben gestanden hätte.
Ich glaube, jeder, der Heinrich von seiner Familie erzählen hörte, wusste, dass hier der ruhende Mittelpunkt seines Lebens lag. Aber auch im Beruflichen galt uneingeschränkt das Beziehungsprimat. Die Verbundenheit, die sich zwischen Heinrich und dem Team der IPU-Hochschulambulanz entwickelt hatte, war mit Händen greifbar. Dieses wunderbare Team, das in berührender Art und Weise mit der Institution und ihrem Leiter identifiziert war, gedenkt seiner heute als „Künstler menschlicher Beziehungen“. Wenn sich Studierende im Gespräch mit mir des Eindrucks erinnerten, den Heinrich bei ihnen hinterlassen hat, fielen oft Worte wie väterlich, mütterlich, oder „wie der Großvater, den jeder sich wünscht“.
Aber Heinrich war auch als Therapeut und Wissenschaftler Relationalist. Wer seine Fallgeschichten, allen voran natürlich die von Leo S., liest, dem muss nicht erklärt werden, dass die therapeutische Beziehung der stärkste Wirkfaktor in der Behandlung psychischer Erkrankungen ist. Diese besondere Art von Beziehung darf genauso wenig frei von Konflikten sein wie unsere alltäglichen Beziehungen es sein können. Konflikte, denen Heinrich Deserno schon früh mit Luborskys Ansatz des zentralen Beziehungskonfliktthemas nachspürte. Es ist bezeichnend, dass ihn bereits seine Dissertation das Konzept des therapeutischen Arbeitsbündnisses analysieren und zu einer Reformulierung kommen ließ, welche ihm internationale Anerkennung brachte. Auch seine Perspektive auf den Traum, einem weiteren zentralen Gegenstand seines Interesses, zu dem er uns ein reiches Erbe hinterlässt, war vom Übertragungsfokus morgenthalerischer Prägung durchdrungen: „Was träumt er mir?“. Die zweite Traumtheorie, die Heinrich so faszinierte, war Moser und von Zeppelins Modell der Traumgenerierung. Dieses Problemlöseparadigma postuliert, dass im Traum ein Komplex, also der im Langzeitgedächtnis wirksame Niederschlag belastender Interaktionserfahrungen, bearbeitet werden soll. Und zwar, indem der Traum die abstrakte Interaktionsrepräsentanz in simulierte Beziehungsrealität zurückübersetzt. Dabei werden Komplexe, für welche die Traumarbeit eine Lösung finden kann, von solchen unterschieden, die nicht auflösbar sind, an die wir uns anpassen, mit denen wir umgehen müssen. Hierbei ringen zwei Tendenzen miteinander, jene, die uns mit der schmerzhaften Erfahrung in Berührung bringen möchte, mit jener Tendenz der Abwehr, die uns vor ebendiesem Schmerz schützen will.
Wenn mir Dein Scheiden wie ein schlimmer Traum vorkommen will, aus dem ich nur zu erwachen brauche, und alles wird wieder gut, dann ist diese Versuchung der Abwehr leicht erkennbar. Die Tendenz, welche mich dem Faktum Deines Todes öffnen soll, hat dagegen weniger leichtes Spiel. Denn dieser Abschied ist nicht auflösbar, nicht änderbar. In seiner Endgültigkeit ist dieser Appell, Dich gehen zu lassen, ohne Dir beizeiten auch nur ein letztes Lebewohl zugerufen zu haben, eine Überforderung. Einzig das, was Du mit uns geteilt hast, was wir miteinander geteilt haben, macht Hoffnung, dass wir diese Aufgabe, wenn nicht lösen, so doch zumindest werden tragen können. Denn es lässt uns spüren, dass da nicht nur Schmerz ist, sondern auch Liebe und Dankbarkeit. Seien uns diese Begleiter auf dem Wegstück, das wir ohne Dich zurücklegen müssen.
Prof. Dr. Lutz Wittmann, 17. Februar 2023