Lotte Köhler-Preis 2021 für Prof. Sudhir Kakar


Prof. Lilli Gasts Laudatio vom 10. März 2022 anlässlich der Preisverleihung des Lotte Köhler-Preises an den indischen Psychoanalytiker und Wissenschaftler Prof. Sudhir Kakar für dessen Lebenswerk.


Es ist mir eine große Ehre und ein persönliche Freude, die Laudatio auf einen Mann zu halten, der als einer der renommiertesten Kulturpsychologen unserer Zeit heute zu Recht vom Hans Kilian und Lotte Köhler Centre for Social and Cultural Psychology and Historical Anthropology in collabaration with the Sigmund Freud Institute – Research Institute for psychoanalysis and ist Applications mit dem Lotte Köhler Prize for Psychoanalytic Developmental, cultural and Social psychology 2021 für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird. Schon ein kurzer Blick auf Sudhir Kakars umfangreiche Publikationsliste lässt erkennen, dass in seinem Denken psychoanalytische Entwicklungs- Kultur- und Sozialpsychologie unablösbar ineinander verflochten sind. Der genauen und feinsinnigen Analyse dieser Verflechtung hat sich Sudhir Kakar buchstäblich mit Leib und ganzer Seele (with his very soul) verschrieben und sein höchst produktives Forscherleben, wie er in seinem Buch der Erinnerungen schreibt, der Grundlegung einer indischen Kulturpsychologie und der psychoanalytischen Erkundung des Verhältnisses von Psyche und Gesellschaft in Indien (vgl. Seele, S. 183) gewidmet – ein zweifellos ambitioniertes und, wie wir heute sagen können, äußerst gelungenes Unterfangen. Damit verband er den zeitgenössischen psychoanalytischen Diskurs einerseits erneut mit seiner in den Anfängen geführten Debatte um die Universalität psychoanalytischer Konzepte und führte ihn an die gegenwärtige postkoloniale Kritik in den Wissenschaften heran.

»Wenn noch vor Einsetzen der Morgendämmerung das Flugzeug auf dem Flughafen Delhi zur Landung ausrollt, wird der Ankommende in eine neue Welt von Bildern, Klängen und Gerüchen eingehüllt, die ihm dunkel den Befehl erteilen, alle Sinne neu zu orientieren, bevor er überhaupt wagen darf, Fragen zu stellen.« Mit diesen Worten lässt Erik H. Erikson sein Buch über Ghandi und über die Umstände seiner Reise nach Indien, genauer nach Ahmedabad, im Jahr 1962 beginnen. Dieser erste Satz verweist auf eine Haltung, ja eine Herangehensweise, die den wenigsten westlichen Reisenden und noch weniger den Vertretern westlicher Wissenschaften eigen ist:  Das Gewahrsein, in eine andere, in eine neue Lebens- und Kulturwelt gestellt zu sein, mit unvertrauten Dispositiven, die eine – nicht allein sinnliche – Neuorientierung verlangen ehe sie behutsam und von ihren Eigenlogiken her deutend erschlossen werden können.

In dieser neuen Welt traf er nur wenig später und im persönlichen Umfeld seiner Gastgeber auf einen jungen Mann, der gerade von einem fünfjährigen Ingenieur- und Betriebswirtschaftsstudium in Deutschland zurückgekehrt war und sich gleichsam zwischen den Welten, ‹auf indischem Boden, aber mit dem Kopf in europäischen Wolken›, wie er später in seinen Memoiren schreiben wird,  wiederfand. Dieser junge Mann war Sudhir Kakar, dem dieses irritierende Nebeneinander zweier Kulturen aufgrund seiner familiären Herkunft – die Mutter identifiziert mit den Riten und Mythen der hinduistischen Tradition und der Vater  ein Regierungsbeamter mit klarer Orientierung an der westlichen Kultur der Aufklärung und des Rationalismus – nicht unvertraut war. Erikson, dessen wissenschaftliche Erkundungen der Entwicklung von Identität und deren Erschütterungen galten, war es, der Sie, sehr geehrter Prof. Kakar, der Ihnen doch vom Vater ein ganz anderer Lebensweg vorgesehen war, schließlich zur Psychoanalyse brachte und dort Ihre Bestimmung finden ließ: »Ich entdeckte, dass das, was ich wirklich wollte, jene besondere, geistige Lebensart war, von der ich glaubte, dass die PsA sie mir geben konnte. Ich wollte sein wie er – ein ›schreibender Psychoanalytiker‹«. (Seele 166) Wir dürfen Erik Erikson und den Kontingenzen des Lebens, die Sie zu ihm geführt haben, sehr dankbar sein.

Hildegard von Bingen, eine Mystikerin und Universalgelehrte des deutschen Mittelalters, wird der Befund zugeschrieben, daß Engel in Spiralen fliegen, nur der Teufel, so ihre Beobachtung, flöge geradeaus. In der hinduistischen Mythologie, hat mir Dr. Chakkarath bestätigt, sind diese Engelwesen den Suras oder Devas nicht unähnlich und auch deren Antagonisten, das Teuflische – die Asuras oder Adevas – haben dort ihren Platz. Nun sind mir deren Flugeigenschaften nicht vertraut, aber Sie, lieber Prof. Kakar, haben zweifellos den Weg der Engel, vielleicht auch der Suras / Devas, gewählt. Nicht nur verliefen Ihre Flugbahnen spiralförmig zwischen den Welten europäischer und indischer Kulturen – auf Ihrem Weg vom Ingenieur und Betriebswirt zum Psychoanalytiker und renommierten Kulturpsychologen mußten Sie viele Spiralen fliegen, etliche Umwege und Hindernisläufe durch immer wieder auch schweres Gelände auf sich nehmen und haben auf eben diesen Wegen so viele Türen zu neuen Perspektiven aufgestoßen.

Über die vielfältigen Stationen gäbe es viel zu berichten, doch erlauben Sie, verehrtes Auditorium, daß ich sie hier nur ganz kurz streife, denn es sind ihrer viele und jede Etappe hielt Bewährungsproben bereit.  Mit beeindruckender Entschlossenheit qualifizierte sich Prof. Kakar auf verschlungenen Wegen zum promovierten Makroökonom in Wien, zum Organisationspsychologen in Harvard und zum Assistenzprofessor für Organizational Behaviour am Indian Institute of Management in Ahmedabad, und schließlich, nach wiederum einigen beschwerlichen Umwegen und erneut mit Eriksons Hilfe zum am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main ausgebildeten Psychoanalytiker.

Mit seiner Rückkehr nach Indien Anfang der 70er-Jahre endeten die ja durchaus abenteuerlichen Lehr- und Wanderjahre des nun 33-jährigen Sudhir Kakar und es war wohl diese Grenzgängerei zwischen den Welten, die es ihm erlaubte, die Psychoanalyse, ihre Metapsychologie und ihre klinische Anwendung ebenso großzügig wie in kritisch-souveräner Weise kultursensitiv zu denken. In seinen zahlreichen Publikationen legt er Zeugnis darüber ab, von welchen Herausforderungen der Transfer der in Europa erlernten Psychoanalyse in den klinischen Alltag seiner psychoanalytischen Praxis in Delhi begleitet war –  ein Umstand, der sich, gleichsam spiegelbildlich, bereits in seiner eigenen Erfahrung als Ausbildungskandidat und Lehranalysand in Frankfurt bemerkbar machte. Die bange Frage: »Sollte meine Analyse daran scheitern, daß wir beide [gemeint waren sein Lehranalytiker und er] in unsere kulturellen Identitäten eingesperrt waren?« (Seele 211) begleitete zunächst seine eigene Lehranalyse, die ihm die Auswirkungen der kulturell geprägten Bias psychoanalytischer Konzepte und auch Behandlungstechniken ebenso nachdrücklich spürbar machten wie das kulturelle Framing der gegenseitigen Wahrnehmung und Bewertungen der darin involvierten Akteure.

Diese Irritationen deckten Differenzen auf, die, wie er schreibt, ›in tieferen kulturellen Schichten des Ichs wurzeln und ganz basale kulturell formatierte Sichtweisen menschlicher Beziehungen› betreffen (Seele 211). In der Tat: Die anthropologische Grundsituation aller Menschen mag gleich sein, doch die soziale Konfiguration dieser Grundsituation unterliegt fundamentalen kulturellen Variationen und damit auch die psychische Ausgestaltung von Wunsch, Verlust, Angewiesenheit, Anspruch.

Daraus leiten sich grundlegende Fragen zur Kulturbefangenheit der Psychoanalyse und der Reichweite der von ihr entwickelten Theorie ab: Erweist sich die Psychoanalyse mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit hier nicht als ein normativer Monolog, der allenfalls in der Lage ist, die Abweichung von europäisch-westlichen Vorstellungen des Seelenlebens zu erkunden, um sie bestenfalls diagnostisch zu erfassen und im therapeutischen Prozess einzuebnen? Welchen Spielraum für Fremderfahrung lassen die Deutungsmuster unserer psychoanalytischen Konzepte? Wie können sich vertraute Weltsichten dem Unvertrauten öffnen, wie sich Eigenes durch Fremdes erweitern und bereichern?  Und wie gelingt dies ohne sich selbst zu verleugnen? Wie lassen sich die differenten Kulturwelten und deren Wissensbestände für einander öffnen und übersetzen, was verbindet, was trennt sie und wie ist dies psychoanalytisch zu fassen? Und: was bedeutet dies für die Psychoanalyse selbst? Taugt sie für die nicht-westliche Welt?

In seiner psychoanalytischen Praxis, die er nach seiner Rückkehr aus Frankfurt 1976 als frischgebackener Psychoanalytiker eröffnete, mußte er feststellen, dass das reine Gold der in Deutschland erlernten Psychoanalyse nicht ohne weitere Legierungen auskommen würde, wollte er denn die innere Welt seiner indischen Patienten erreichen.

In seinen frühen Arbeiten, etwa in The Inner World. Childhood and Society in India von 1978, aber indirekt auch in seinem Buch Shamans, Mystics and Doctors von 1982 setzte sich Sudhir Kakar mit diesen notwendigen Modifikationen der analytischen Technik und der Kalibrierung der psychoanalytischen Metapsychologie und ihrer interpretativen Zugänge auseinander, aber auch mit seinem eigenen Ringen um seine Identität als Analytiker – auch die westliche Psychoanalyse kennt heilige Kühe, nur sind es dort ganz bestimmte Vorstellungen etwa von Abstinenz und Neutralität oder Introspektion, Ichgrenzen und Autonomie. In der Tat: ein Identitätsthema in doppelter Hinsicht – den in diesen Konzepten verborgenen europäischen Ethnozentrismus aufzubrechen erfordert Mut. Dem folgten weitere Monographien sowie zahlreiche kultur- und religionspsychologische Essays zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte, zu Erotik und Sexualität in Indien, zum Verhältnis von Psychoanalyse und Mystik. Die Wahl seiner Themen und die Art seiner Analysen lassen keine Berührungsängste erkennen. Er widmet sich ihnen mit einer klaren inneren Haltung, nämlich der eines Psychoanalytikers, der sich jene Freiheit erlaubt, die die Psychoanalyse und ihre ganz spezfischen Denkbewegung zuallererst hervorgebracht hat: Neugierde, Offenheit und der Wunsch zu verstehen, gemäß dem sophokleischen Diktum: Staunliches waltet viel, doch nicht Erstaunlicheres als der Mensch.

Was einst als reflektiertes Befremden auf der Couch seines Lehranalytikers in Frankfurt am Main begann, fand, nun auf der anderen Seite der Couch, eine äußerst produktive und wegweisende Fortsetzung in der eigenen psychoanalytischen Praxis in Delhi und von dort aus in zahlreichen, in 22 Sprachen übersetzte Publikationen, darunter auch sechs Romane, sowie several Gastdozenturen, Gastprofessuren und Fellowships an den Universitäten Harvard, Chicago, Princeton, Hawaii, Melbourne, in Österreich, Deutschland und Frankreich.

In einem der vielen Beiträge über Kakars Werk habe ich eine schöne Formulierung gefunden. Darin heißt es in Abwandlung des biblischen Idioms, eher gehe ein Kamel durch das Nadelöhr, als dass ein für aussichtslos gehaltenes Ereignis eintreffe, er hätte Freuds Psychoanalyse durch das Nadelöhr einer anderen Kultur geführt. Das trifft es wohl auf den Punkt.

Zweifellos ist Sudhir Kakar nicht der erste, der auf die Kulturbefangenheit der Psychoanalyse und ihrer Theoreme aufmerksam machte. Denken Sie etwa an Girindrasekhar Bose, den ersten Präsidenten der Indian Psychoanalytic Society, der sich bereits in den 1920er Jahren mit dem Konzept der Verdrängung vor dem Hintergrund der hinduistischen Philosophie auseinandersetzte und mit Freud eine Korrespondenz unterhielt, in der er anhand seiner Beobachtungen an indischen Patienten die Universalität etwa des Ödipus- oder Kastrationskomplexes in Frage stellte. Für ihn leitete sich aus dieser Kritik eine andere Behandlungstechnik ab, gleichsam eine idiosynkratrische Freestyle-Analyse. Auch der polnische Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski wartete ebenfalls mit ausgedehnten Studien zum Ödipuskomplex und der kindlichen Sexualität auf und verwies eher kategorisch auf die Kulturspezifik der Psychoanalyse. Er beschrieb, um bei dem Gleichnis zu bleiben,  die Beschaffenheit des Nadelöhrs und die Statur des Kamels und konstatierte die weitgehende Inkompatibiltät.

Sudhir Kakar indes nimmt in seinem Œuvre eine entschieden andere und vorwärtsgerichtete  Perspektive ein, nämlich die eines indischen Psychoanalytikers, der sich ganz bewusst den kulturellen Konflikten seiner nicht-westlichen Subjektivität und der ihm ebenso bedeutsamen Identifizierung mit einer westlichen Wissenschaft aussetzt und dabei keine der beiden Seelen in seiner Brust verleugnet oder der einen vor der anderen den Vorzug gibt. Als Fazit Ihrer Lehranalyse haben Sie, verehrter Prof. Kakar, in einem Ihrer Essays die zwingende Notwendigkeit einer kulturellen Offenheit des Analytikers betont und dessen Bereitschaft, die Vorstellungen, die seiner eigenen Kultur zugrundeliegen, ernsthaft zu hinterfragen und deren Relativität anzuerkennen. Eben diese Haltung sei es, die die eigenen kulturellen Grenzen aufweiche und für andere kulturelle Lebenswelten durchlässig mache. (KultPsA 24)

Tatsächlich geht es in all seinen Arbeiten, die wir heute ehren, um nichts Geringeres als die Indigenisierung einer kultur-sensitiven Psychoanalyse, wie dies auch von Ashis Nandy, dem Kilian-Preisträger von 2019, für eine indische Psychologie gefordert wurde. Geography matters , denn der kulturelle Raum, dieses Gespinst aus gesellschaftlicher Verfasstheit, Geschichte, Traditionen, Religion, Kunst und Literatur, kollektiven Bilderwelten und geteilten Überzeugungen, verleiht jeder Theorie, auch der importierten, eine eigene Note, verleiht ihr einen distinkten, charakteristischen Bedeutungshof.  In einer Würdigung Sudhir Kakars in dem 2017 erschienenen Buch Eminent Indian Psychologists: 100 Years of Psychology in India heißt es, er habe sowohl die Psychoanalyse als auch Indien dekonstruiert und der indischen Psychoanalyse gerade in Zeiten psychologischer Universalismen ihren eigenen Terroir verliehen. Wahrlich eine wunderbare, der Winzerei entliehene Metapher.

Nicht von Ungefähr war Sudhir Kakar, neben zahlreichen Auszeichnungen , die er im Lauf der Jahre erhielt, wie etwa der Kardiner Award der Columbia University, des Boyer Prize der American Anthopological Association, der Goethe Medaille des Goetheinstituts und des deutschen Bundesverdienstkreuzes und ebenso zahlreichen Fellowships buchstäblich auf der ganzen Welt gleich zweimal Homi Bhabha Fellowship – 1979 und 2012-2014 –, was seine Nähe zu dem so wegweisenden indischen Philosophen bezeugt, der die hybride condition einer jeden Kultur der Gegenwart in den Vordergrund seines Denkens stellte und eben diese Hybridität als Motor in der Hervorbringung eines dritten Raumes zwischen fremder und eigener Kultur begriff. Sudhir Kakar hat in seinem Werk, aber auch in seiner Person einen solchen dritten Raum für die Psychoanalyse und ihre Theoreme eröffnet —  einen Denkraum, in dem sich kulturelle Differenz zeigen, in dem sie verhandelt und produktiv werden kann und in dem Neues entsteht, einen Denkraum, der den Fragen den Vorzug vor den Antworten gibt, einen Denkraum, in dem psychoanalytisches Denken, das kostbarste Analyse- und Erkenntnisinstrument, das wir haben, wirksam werden kann. Wir könnten auch sagen: hier geht das Kamel durchs Nadelöhr –  und beides wird nicht mehr dasselbe sein: das Kamel nicht und auch nicht das Nadelöhr. Das ist Psychoanalyse at its best.

Sehr geehrter Herr Prof. Kakar. Ich gratuliere Ihnen zum Lotte Köhler Prize for Psychoanalytic Developmental, Cultural and Social psychology 2021.