Jahresrückblick von IPU-Präsident Jan-Hendrik Olbertz

IPU-Präsident Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz blickt nicht nur auf 2022 zurück, sondern nennt auch Schwerpunkte für das kommende Jahr.

Liebe Studierende, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Partner und Freunde der IPU,

wieder liegt ein ereignisreiches und erfüllendes, aber auch kräftezehrendes Jahr hinter uns und es bereitet mir Kopfzerbrechen, welche Höhepunkte ich hier auswählen und uns in Erinnerung rufen soll. Deshalb sei Ihnen, bevor dieser Jahresrückblick beginnt, schon an dieser Stelle, und auch im Namen von Birgit Stürmer und Rainer Kleinholz, ein frohes Weihnachtsfest und ein glücklicher Übergang ins Neue Jahr gewünscht, das Ihnen vor allem Glück, Gesundheit und persönliches Wohlergehen bringen möge!

Wenn Sie von hier ab weiterlesen möchten, gibt es einiges über dieses Jahr 2022 zu berichten. Auf jeden Fall sind wir nach den Wellen der Covid-19-Pandemie in den regulären Universitätsbetrieb zurückgekehrt und aus dem digitalen Orbit wieder in die wirkliche Welt eingetreten. Besonders schön zu erleben war das in der Langen Nacht der Wissenschaften, die wir am 2. Juli auf unserem Campus wieder gemeinsam mit den Berliner psychoanalytischen Ausbildungsinstituten – zugleich in Verbindung mit einem Alumni-Treffen – ausgerichtet haben.

Aber überschattet war das Jahr vom Krieg in der Ukraine, seit Russland am 24. Februar in sein Nachbarland einfiel und seitdem dort Tod und Verwüstung anrichtet. Die IPU erklärte sich solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, ihren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Studierenden und insbesondere Psychoanalytikerinnen und -analytikern. Sie verwies auf die Tradition ihrer Zusammenarbeit mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen in der Psychotherapie und -analyse, z. B. auf die Übersetzung des Lehrbuches der psychoanalytischen Therapie von Helmut Thomä und Horst Kächele ins Ukrainische und warb vom DAAD zusätzliche Mittel für ihr Flüchtlingsprojekt "StuFen - Studierende helfen Flüchtlingen“ ein, das als "Welcome"-Projekt nun auch auf Geflüchtete aus der Ukraine ausgeweitet wurde. Zahlreiche Studierende beteiligten sich auf dem Berliner Hauptbahnhof am Empfang und an der praktischen Unterstützung ukrainischer Geflüchteter nach ihrer Ankunft in Deutschland. Ida di Pietro, Witwe des renommierten Wiener Psychoanalytikers Harald Leupold-Löwenthal und großzügige Förderin der IPU, erinnerte uns an eine psychoanalytische Vortragsreihe aus dem Jahr 2019 in Lwiw (Lemberg), die der Psychoanalyse mit zu einer inzwischen weiten Verbreitung in der Ukraine verholfen hat. An all diese Initiativen anzuknüpfen ist für die IPU auch im kommenden Jahr eine Verpflichtung, insbesondere angesichts des derzeitigen Kriegszustandes, der von Ängsten und möglichen Traumatisierungen begleitet wird. Es bleibt die Hoffnung auf Frieden für die Ukraine in möglichst naher Zukunft.

Was nicht vergessen werden darf: Die Ukraine verteidigt sich nicht nur auf dem eigenen Boden, sondern kämpft auch für uns in Deutschland für ein friedliches und demokratisches Europa. Um so wichtiger ist es für die IPU, ihre internationalen Netzwerke weiter auszubauen und dabei stärker denn je die Ukraine einzubeziehen.

Zu den internationalen Projekten der IPU möchte ich die Fortsetzung des Balkan-Netzwerkes STICS („Social Trauma in Changing Societies“) hervorheben, z. B. mit der Summer School "Screening the Scars", in deren Rahmen die IPU Berlin in Zusammenarbeit mit dem Kant Kino Berlin vom 19. bis 23. September 2022 fünf Filme zum Sozialen Trauma zeigte, aber auch die bereitsEnde Juni ausgerichteteIPU-Sommerschule „The Future Now?! Interdisciplinary Psychological Perspectives on Global Ruptures, Challenges and Actions". Dazu kommen die fortgesetzte Ausarbeitung unseres Status-Projekts Erasmus Mundus Joint Master, hier u. a. ein Praxis-Workshop vom 27. bis 30.11.2022 in Nis (Serbien), neben der IPU mit Partnern aus den Universitäten Padua, Lissabon, Nis, Sarajevo, und Tallinn. Weitergearbeitet wurde überdies an dem Vorhaben eines "Visiting Programs", zu dessen Vorbereitung die IPU u. a. gemeinsam mit der HU und der FU Berlin sowie weiteren Berliner Hochschulen auf der größten amerikanischen Netzwerkkonferenz für Hochschulen im Mai 2023 am Berlin-Brandenburg-Stand des DAAD in Washington vertreten sein wird.

Im Rahmen des Horst Kächele Memorial Gastlehrstuhls und paralleler Webinare gaben sich 2022 nacheinander Mark Solms (Kapstadt), Heidi Levitt (Boston) und Christopher Muran (Garden City, New York), bildhaft gesprochen, die Klinke in die Hand. Sie haben unseren wissenschaftlichen Alltag, die Lehre und das öffentliche (teils digitale) Vortagswesen an unserer Universität ganz maßgeblich bereichert.

Drei Berufungsverfahren sind derzeit in Arbeit und werden 2023 sicher erfolgreich abgeschlossen sein: Psychoanalytische Kulturwissenschaft undKlinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters sowieTransformationspsychologie und Arbeitswelt. In der Forschungskommission wurde unser Forschungsprofil mit den drei Schwerpunkten „Psychotherapieforschung, Transformationsforschung, Konzeptforschung“ weiter ausgearbeitet, Anschubfinanzierungen wurden vergeben und mehrere umfangreiche Drittmittelvorhaben sind in Vorbereitung. Dazu gehören z. B. ein groß angelegtes Verbundvorhaben (RCT-Studie zu Langzeitpsychotherapien mit 10 beteiligten Zentren), das von Simone Salzer und Christiane Steinert ausgearbeitet wird, sowie zwei HORIZON-Projekte ("Mainstreaming Trustworthy AI for Mental Health - MATAIM)” und – in Planung – eines zum Stichwort „Metaverse“, das der Frage nachgehen soll,  wie die psychische und körperliche Gesundheit von Menschen sichergestellt und gefördert werden kann, die sich beruflich im Metaverse aufhalten, beides unter Federführung von Gunther Meinlschmidt.

ZurNachwuchsförderungist als erstes festzuhalten, dass wir 2022 so viele Studierende hatten wie noch nie. Auch wenn die Anzahl der Neuzugänge im Jahr 2022 mit 237 Studierenden in der Summe etwas unterhalb des Niveaus der beiden Vorjahre lag, konnte im englischsprachigen Track des Masterstudiengangs Psychology mit 58 Neuzugängen erstmals eine zweite Kohorte gebildet werden. Der Anzahl aller Studierenden wird zum Jahresende 2022 erstmals bei über 900 liegen (Vorjahr 857). Auch das Promotionskolleg hat Fahrt aufgenommen, wir haben erneut einen Promovierendentag veranstaltet, und vor allem beginnt zum 1. Januar 2023 die Arbeit unseres neuen, gemeinsamen Graduiertenkollegs mit dem KKC Bochum, das dem Rahmenthema "Traumata und kollektive Gewalt: Artikulation, Aushandlung und Anerkennung" gewidmet ist (feierliche Eröffnung am 28. Januar). Die Stiftung zur Förderung der universitären Psychoanalyse hat in diesem Zusammenhang zusätzlich fünf neue Promotionsstipendien bewilligt (drei für das Graduiertenkolleg und zwei im Rahmen eines temporären Sonderprogramms für Promovierende, die neben der Promotion noch ihre Ausbildung nach altem Recht absolvieren). Für diese großzügigen Entscheidungen gebührt der Stiftung und unserer Stifterin, Christa Rohde-Dachser, ganz besonderer Dank. Ebenso gilt er der Köhler-Stiftung, die auf Seiten des KKC Bochum die Förderung übernommen hat.

Neben einer Vielzahl von Kooperationen mit anderen Universitäten und Instituten im In- und Ausland, mit Kliniken und therapeutischen Praxen, Verbänden und Vereinigungen unterhält die IPU eine besonders enge Kooperation mit dem Hans Kilian und Lotte Köhler Centrum für sozial- und kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie der Universität Bochum (kurz KKC Bochum) sowie dem Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main (SFI). Im Rahmen dieses Kooperationsdreiecks gibt es in halbjährigem Rhythmus derzeit eine Reihe von zunächst drei Symposien zur Sozial- und Psychoanalyse, die am 3. Februar zum Thema „Psychoanalyse und Sozialanalyse – Konkurrenz, Komplementarität, Synergie“ in Bochum gestartet wurde, gefolgt am 27. Oktober vom SFI zu „Krieg und Kriegsfolgen aus sozio- und psychoanalytischer Sicht“, ehe die Reihe am 9. Februar 2023 mit der Frage „Warum und wozu braucht die Analyse des Sozialen die Psychoanalyse?“ an der IPU fortgesetzt wird. Und schließlich läuft seit Jahren bereits die Lecture Series Psychoanalytische Kulturwissenschaft, eine abendliche Vortragsreihe, gefördert von der Friedrich-Stiftung Hannover, die gemeinsam vom BIPP, der HU Berlin, dem ICI und der IPU ausgerichtet wird (u. a. mit Vorträgen von Insa Härtel am 22. März und Joachim Küchenhoff am 8. Dezember).

Beim Stichwort Kooperationen ist – neben der erfolgreichen wissenschaftlichen Neuausrichtung unserer Hochschulambulanz mit dem Schwerpunkt der Gruppenpsychotherapie sowie der Festanstellung weiterer Therapeutinnen und Therapeuten – die Psychoseambulanz zu nennen, die als Zusammenschluss unserer Ambulanz mit der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus Patientinnen bzw. Patienten mit schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen behandelt, entsprechende Forschungsvorhaben verfolgt und Studierenden den Erwerb praktisch-klinischer Erfahrungen ermöglicht.

Unter denKonferenzen,die an der IPU 2022 ausgerichtet wurden, sind u. a. die Tagungen „Die Kunst, sich irritieren zu lassen“ von JUNKTIM e. V. am 19. April, die 3. Internationale Erich Fromm Forschungskonferenzvom 8. bis 11. Juni und die Tagung Qual und Kunst der Einsamkeit“ am 18. und 19. November zu nennen, die gemeinsam mit der Kunsthochschule Berlin Weißensee ausgerichtet wurde. Darüber hinaus war die IPU beteiligte Gastgeberin für Tagungen von Kooperationspartnern, wie etwa der Arbeitsgemeinschaft Psychodynamischer Professoren (ADAP), des Symposiums zur Geschichte der Psychoanalyse, des 12. DDPP-Kongresses, des DPV-Kulturworkshops „Transformationen des Denkens – über individuelle und kollektive Fähigkeiten, aus Erfahrungen zu lernen“ (mit Joachim Küchenhoff und Rolf-Peter Warsitz), die 75-Jahresfeier des Instituts für Psychotherapie e. V. Berlin (IfP) und die Herbsttagung der Kommission "Psychoanalytische Pädagogik" der DGfE.

Weitere Höhepunkte im Jahr, für die ich hier nur eine kleine Auswahl treffen kann, waren der Universitätstag Die Universität als Gemeinschaft“ am 26. Januar mit mehreren Nachbereitungstreffen (zuletzt am 14. Dezember), das Strategieforum zur Zukunft der psychoanalytischen Kulturwissenschaft am 1. April, am 23. April die Filmvorführung "Men don't cry" zu Ehren des 85. Geburtstages von Prof. Dr. Christa Rohde-Dachser, der Career Day am 13. Mai, unser unvergessliches Betriebsfest zur Sommersonnenwende am 21. Juni, die Jubiläumsfeier am 12. Oktober, die diesmal mit der Ernennung von Seniorprofessorinnen und -professoren (Susanne Lanwerd und Michael Buchholz) und Vergabe der Berufungsurkunden an die neuen Juniorprofessorinnen bzw. -professoren (Leonie Kampe und Christian Sell) einherging, nachdem unmittelbar vorher die Unterzeichnung der Kooperationsvereinbarung mit dem Verein JUNKTIM e. V. über das neue An-Institut für Empirische Gesprächsforschung in therapeutischen Interaktionen erfolgt war.

Am 9. Juli gab es einen Vortragsabend der Freunde & Förderer der IPU Berlin mit Aaron Lahl zum Thema "Revolutionär wider Willen – Freud und die Onanie" und am 30. November konnten wir Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth zur Erich-Fromm-Vorlesung am gleichnamigen Stu­dy Center der IPU begrüßen, das großzügig durch die Karl Schlecht-Stiftung gefördert wird.

Noch über Vieles wäre zu berichten, z. B. über denDFG-Antrag der Bibliothek zum Projekt OEDIPUB ("Offene elektronische Dokumente der IPU-Bibliothek") oder über die Gewinnung von Prof. Dr. Tilmann Habermas für die IPU. Wie jedes Jahr gab es Preisverleihungen für beste Abschlussarbeiten, und zusätzlich hat Ida di Pietro einen neuen Nachwuchspreis gestiftet, der im kommenden Jahr zum ersten Mal vergeben wird.

Die Teams IT und Digitalisierung haben ebenso wie das Kommunikationsteam ganze Arbeit geleistet, sei es im Zusammenhang mit der Planung eines neuen Campus-Management-Systems, der Betreuung zahlloser digitaler Angebotsformate oder der Erneuerung unserer Hardware. Produziert wurden mehrere Podcasts, u. a. zum Post-Covid-Syndrom (im Januar mit Joachim Küchenhoff), zu Sex und Liebe (im Februar mit Phil Langer und im September mit Aaron Lahl), zum Thema Angst (im April mit Lilli Gast und Charline Logé), zu Identität (im Mai mit Annette Streeck-Fischer und Pradeep Chakkarath), zum Sprechen in der Psychotherapieforschung (im Juli mit Marie-Luise Alder und Michael Franzen), zu Depressionen (im Oktober mit Samuel Bayer), zum Thema Fußball (im November mit Thomas Kühn und Alexander Drandarevski) und schließlich zur psychischen Gesundheit (im Dezember mit Gunther Meinl­schmidt). Ferner wurden die Website einem auffrischenden Relaunch unterzogen und die Forschungsprojekt-Seite umgestaltet. Neue Imagefilme hatten das Thema "Kein Denken ohne Fühlen" und widmeten sich Fragen, wie „Was bedeutet Psychoanalyse? Ist Psychoanalyse aktuell? Was können wir von der Psychoanalyse lernen?“, verwoben mit Print- und Videowerbung in der S-Bahn und in einigen Berliner Kinos.

Die AG Diversity arbeitete an Empfehlungen zur geschlechtersensiblen Sprache und hat einen Gender Equality Plan vorgelegt, der am 9. Dezember im Akademischen Senat verabschiedet wurde, ebenso wie ein Leitkonzept bzw. Masterplan zum Klimaschutz, den die am 20. April vom Akademischen Senat eingerichtete AG Klimaschutz vorbereitet hatte.

Geht es nun um einen Ausblick, dann liegen die Schwerpunkte des Jahres 2023 auf der Hand. In der ersten Jahreshälfte werden wir vor allem mit der Vorbereitung der (vorzeitigen) Reakkreditierung mit Beantragung des Promotionsrechts beschäftigt sein. Ein weiteres Strategieforum (nach dem letzten zur Psychoanalytische Kulturwissenschaft) ist zu konzipieren, die Vorbereitung des erstenJahreskongresses der IPU(Arbeitstitel: Zur psychoanalytischen Methode in der Sozial- und Kulturforschung – qualitativ-empirische Forschung an der IPU) läuft dank Christine Kirchhoff und Aaron Lahl auf Hochtouren, und die Arbeit von zwei neu eingeworbenen Themenklassen des Deutschland-Stipendiums wird beginnen (zu den Themen „Zukunft“, gefördert von der Friedrich Stiftung Hannover, und „Trauma und Gewalt“, gefördert vom Stiftungsfond Priv.-Doz. Dr. Harald Leupold-Löwenthal). Daneben muss die Suche nach einer geeigneten Immobilie für die IPU nach 2030 weitergehen, wobei die attraktivste Option natürlich darin besteht, im derzeitigen Campus Stromstraße an der Spree ein dauerhaftes Domizil zu finden.

Wir haben also Gründe zuhauf, die Ärmel hochzukrempeln, mit Tatendrang und Zuversicht ins neue Jahr zu starten.

Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz
(Präsident)