Kritik hat ihre eigene Auflösung zum Zweck. Ihr innigstes Anliegen ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen sie selbst überflüssig ist, weil ihr Gegenstand, die »verkehrte Welt« (Hegel), aufgehoben, also abgeschafft ist. Für eine Gruppe, die sich im weitesten Sinne der Überwindung knechtender, erniedrigender Verhältnisse verpflichtet fühlt, stellt das ›Feiern‹ ihres Bestehens einen Widerspruch in sich dar: Solange eine Notwendigkeit zur Existenz, zum Weitermachen besteht, gibt es nichts zu Feiern.
Und dennoch möchten wir in diesem Sommersemester auf 10 Jahre krIPU zurückblicken, eine studentische Initiative, die sich 2015 als kritische Einspruchsinstanz an der IPU gründete und seit dem – mal mehr, mal weniger aktiv – das Spannungsfeld zwischen Ideologiekritik und psychoanalytischem Denken bearbeitet.
Zusammengefunden hatte sich die – damals personell gänzlich anders als heute besetzte – Gruppe zu folgendem Anlass: Im Oktober 2014 besuchte eine Delegation der IPU, bestehend aus drei Professor·innen und zehn Studierenden, den ersten internationalen Psychoanalyse-Kongress im Iran. Anschließend reisten sie noch einige Tage durch den Norden des Landes, um dessen Kultur kennenzulernen. In der damaligen studentischen Zeitung der IPU namens Freudian Slip schrieb eine der mitgereisten Student·innen später: »Zurück in Berlin, gab es eine spontan angesetzte Informationsveranstaltung, bei der wir begeistert von unserer Begegnung mit den iranischen Kollegen, dem herzlichen iranischen Volk und den Erlebnissen in diesem Land erzählten. Die Veranstaltung führte bei einigen Studenten zu Empörung, die sie gegenüber der Hochschulleitung äußerten.« Kurze Zeit später gaben sich die Empörten, gemeinsam mit einigen Angestellten aus dem Mittelbau, den nach wie vor witzigen Namen krIPU – kritische IPU. Auf dem Wordpressblog der krIPU (der nicht weiter aktualisiert wird), kann man ihre Kritik noch heute in Form einiger Kurzaufsätze nachlesen.
Die Gruppe beanstandete damals explizit nicht, dass man überhaupt, etwa als Einzelperson, aus wissenschaftlichen Gründen oder privat in den Iran reist. Sie sprach sich gegen den stattgefundenen offiziellen, institutionellen Austausch aus. Ohne Zustimmung des totalitären Regimes des Irans hätte der Kongress nicht stattfinden können. Indem man der Einladung zu diesem gefolgt war, habe man deswegen auch dem Regime Legitimation verliehen. Des Weiteren ärgerten sich die Kritiker·innen darüber, dass nach dieser Reise von der Delegation selbst kaum Kritik an den Bedingungen dieses Austausches zu vernehmen war. Zwar stellte eine der mitgereisten Professorinnen später fest, dass eine psychoanalytische Konferenz »in diesem Land alles andere als selbstverständlich sei« und politische Diskussionen deswegen vermieden wurden. In einem der Kurzaufsätze auf dem Blog wurde bemerkt, dass es aber auch im Nachgang auf der Infoveranstaltung an der IPU verpasst wurde, »dieses Konflikthafte genauer anzuschauen«.
Als Grund für das Ausbleiben der Kritik auf Seiten der Iran-Reisenden vermutete die damalige krIPU den Kulturrelativismus – deswegen der Titel der ersten krIPU-Vortragsreihe: »Von wegen Kulturrelativismus! Religionskritik. Politik. Psychoanalyse.«. Auf der ersten Veranstaltung sprachen der ehemalige Psyche-Redakteur Helmut Dahmer und derm Psychoanalytiker und Essayisten Sama Maani. Letzterer gab dem Kulturrelativismus folgende Bestimmung: »Wir alle, die wir uns als weltoffen und an anderen Kulturen interessiert wahrnehmen, wir, die wir andere Kulturen ›so wie sie sind‹ respektieren, und an ihnen keinen ›fremden‹ Maßstab anlegen wollen (denn das würden wir als ›überheblich‹ empfinden), wir sind alle AnhängerInnen des Kulturprinzips.« Im Sinne dieser Haltung sprach man auf der Infoveranstaltung mit keiner Silbe über die gesellschaftlichen Verhältnisse und Zerwürfnisse im Iran, über den Fanatismus der Mullahs, die Unterdrückung von Frauen, Homosexuellen und Apostaten, die Terrorismusförderung oder den auf Vernichtung abzielenden Hass auf den jüdischen Staat Israel.
Seit diesem Beginn vor 10 Jahren organisiert die krIPU regelmäßig Vorträge und Diskussionen zu Themen, in denen sich das anfängliche Anliegen in Variationen wiederholt. Immer noch und immer wieder geht es um Religions- und Ideologiekritik, um Analysen reaktionärer gesellschaftlicher Tendenzen, um Kritik des Antisemitismus, um Aufklärung. Insbesondere die tragende Rolle der Psychoanalyse, als diejenige Disziplin, die auf die »Reproduktion gesellschaftlicher Konflikte im Individuum« (Adorno) stößt, war sowohl Gegenstand der Debatten als auch Instrument zur Erhellung und Kritik.
Wir freuen uns in der Jubiläumsreihe im Sommersemester 2025 mit ehemaligen Mitgliedern/Wegbegleitern der krIPU zusammenzukommen und zu schauen, inwiefern sie dieses Spannungsfeld von Kritik und Psychoanalyse in ihrem heutigen Denken und Arbeiten prägt.
Die krIPU ist eine studentische Initiative an der IPU Berlin, die sich regelmäßig trifft und Veranstaltungen organisiert, um die Möglichkeiten und Grenzen einer gesellschaftskritischen und politischen Psychoanalyse, ihre überschaubare Geschichte und ihre ungewisse Zukunft zu diskutieren. Interessierte sind eingeladen, sich in Verbindung zu setzen kripu(at)ipu-berlin.de
Gefördert durch den StuRa.
19.30 Uhr, IPU Berlin, Stromstr. 2, Hörsaal 1
Vortrag & Diskussion mit Aaron Lahl (Berlin)
— Die Annahme eines menschlichen Sexualtriebes war lange Zeit bestimmend für das Nachdenken über Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft. Dass wir von einem schwer kontrollierbaren, dynamisch-energetischen sexuellen Drang angetrieben werden, ist eine Grundvoraussetzung, die sonst so heterogene Modelle wie jene Sigmund Freuds, Alfred Kinseys oder auch Konrad Lorenz‘ miteinander teilen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in den post-68er Jahren ist das Konzept des Sexualtriebes jedoch in eine tiefe Krise geraten. Die post-Kinsey‘sche sozialwissenschaftliche Sexualforschung (u.a. John H. Gagnon & William Simon) hat den Trieb als historisch kontingentes Skript beschrieben, das die besondere Stellung der Sexualität in der viktorianischen Epoche widerspiegle, jedoch für die Funktionsweise sexuellen Handelns in liberalisierten Gesellschaften kaum Erklärungskraft mehr besitze. Die zweite Frauenbewegung hat das Triebmodell als patriarchale Sexualideologie kritisiert, deren Funktion unter anderem darin bestehe, sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen zu legitimieren. In der politischen Theorie gilt seit Foucault als ausgemacht, dass die Annahme, die Gesellschaft unterdrücke den Sexualtrieb des Individuums, als unterkomplexe Vernachlässigung der „produktiven Dimensionen der Macht“ verworfen werden müsse. Und auch innerhalb der Psychoanalyse sind sich fast alle theoretischen Neuerungen und Schulenbildungen seit Freud (u.a. Neofreudianismus, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie, relationale Psychoanalyse) darin einig, dass der Sexualtrieb ein unzeitgemäßes Konzept sei.
Der Vortrag möchte vor diesem historischen Hintergrund einige Überlegungen zur gegenwärtigen Stellung des Sexualtriebes in der psychoanalytischen Theorie und der gesellschaftlichen Realität anstellen. Welche gesellschaftlichen und sexualkulturellen Entwicklungen bilden sich im (vermeintlichen) Veralten des Triebes ab? Welches wäre ein zeitgemäßes Verständnis des Triebes, das weder auf naturalistische noch auf kulturalistische Holzwege gerät? Wie zeigen sich Triebe und Triebkonflikte heute – und wie werden sie maskiert?
Aaron Lahl, Psychologe, Psychotherapeut in Ausbildung (TP/AP), wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychologischen Hochschule Berlin, arbeitet zu diversen Themen im Spannungsfeld von Psychoanalyse, Sexualforschung und Geschlechterwissenschaft. Aktuell Promotion an der IPU Berlin zur Bedeutung von Masturbation und Pornografiekonsum in der männlichen Sexualität. Publikationen finden Sie hier
18.00 Uhr, IPU Berlin, Alt-Moabit 91B-01
Notorious (1946) ist weder Hitchcocks bekanntester noch – gemessen an üblichen Kriterien – sein gelungenster Film. Auch für psychoanalytische Auseinandersetzungen mussten eher andere Werke des "Master of Suspense" herhalten. Dennoch lohnt es sich gerade für an Psychoanalyse Interessierte, diesen Film zu sehen – insbesondere, wenn man Sonja Wittes verschriftlichten Vortrag Hitchcock in Deutschland oder wie die Nazis zu Dealern wurden. Der Versuch einer psychoanalytischen Darstellung der deutschen Schuldabwehr am Beispiel von »Notorious« (2006) hinzunimmt.
Aus diesem Vortrag, zur Veranschaulichung unseres Interesses an Wittes Text und Hitchcocks Film, ein Auszug:
»Die 50er Jahre sind es, die als Hochzeit des Beschweigens deutscher Vergangenheit gelten und diese sich als Taktik deutscher Schuldabwehr geltend machte. Als ausgezeichnetes Beispiel für einen Versuch in den 50ern, Spuren des nationalsozialistischen Verbrechens aus der medialen Öffentlichkeit zu verbannen, soll heute die erste deutsche Synchronisationsfassung „Weißes Gift“ von „Notorious“ dienen. „Notorious“ wurde 1946 unter der Regie von Alfred Hitchcock in den USA gedreht. Es geht hier um Alicia Hubermann – Tochter eines verurteilten deutschen Nazis –, die im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes nach Brasilien geht, um dort mit einer Bande von Nazifreunden ihres Vaters aufzuräumen. 1951 erschien unter dem Titel „Weißes Gift“ in Deutschland eine den Inhalt verfälschende Synchronisationsfassung. In dieser ersten deutschen Synchronisationsfassung „Weißes Gift“ wird aus Alicia Hubermann Elisa Sombrapal – Tochter eines verurteilten Drogenbosses –, die in Brasilien Kompagnons ihres Vaters zur Strecke bringt. Erst 1969 erscheint eine neue – inhaltlich dem Original adäquate – Synchronisationsfassung „Berüchtigt“. Mein Vortrag soll die Beziehung eines Publikums zum Film zum Gegenstand haben. Oder vielmehr die Frage: Warum hätte das deutsche Publikum keine Beziehung zu einer dem Original „Notorious“ adäquaten Synchronisation in den 50ern aufbauen können.«
Witte befasst sich nicht nur mit den psychologischen Funktionsweisen des Mediums Film, derer sich Hitchcock so gekonnt bediente, sondern liefert darauf aufbauend eine präzise Analyse des Phänomens der Schuldabwehr innerhalb der deutschen Gesellschaft.Wir möchten den Film gemeinsam in der ersten Synrchonisationsfassung schauen und im Anschluss über Wittes Vortrag sprechen (hier der Link zum Text). Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit Signorelli (Gesellschaft für Psychoanalyse und Kulturtheorie e.V.) organisiert. Um Anmeldung per Mail an kripu(at)ipu-berlin.de wird gebeten.
19.30 Uhr, IPU Berlin, Stromstr. 2, Hörsaal 1
Vortrag & Diskussion mit Benedikt Salfeld (Berlin)
Als einzige akkreditierte Kriegsreporterin berichtete das model gone photographer gone journalist Lee Miller für das britische Modemagazin Vogue von dem Sieg der Alliierten über Nazideutschland. Im letzten Kriegsjahr erlebte die Amerikanerin die verlustreiche Landung an der französischen Küste, die umjubelte Einnahme von Paris und die bestürzende Befreiung von Konzentrationslagern in Deutschland. Ihre Reportagen zählen zu den frühesten und erschütterndsten Zeugnissen der Verbrechen im NS. Ihre 1992 erstmals von ihrem Sohn Antony Penrose gesammelt herausgegebenen Arbeiten bestechen durch dokumentarische Genauigkeit und drastisches Urteil genauso wie durch humorvolle Spitzen und sachte Einfühlsamkeit.
2024 durch einen von Kate Winslet produzierten Film wieder massenmedial popularisiert, gilt für das Werk Millers trotz wiederkehrender Erinnerungsbemühungen ein ähnlicher Befund wie für die Shoah: Eine Form des Erinnerns, die auch als Erinnerung gelten kann, misslingt nur allzu oft. Miller und ihre Reportagen sind auf eigentümliche Weise mit dem Sujet identifiziert, dadurch drohen sie der Verdrängung anheimzufallen. Der Vortrag wird zunächst das bemerkenswerte Werk Millers aus Bild und Text würdigen. Daran anknüpfend wird die Frage nach gerechter Erinnerung aufgeworfen und von welchen psychischen Voraussetzungen diese abhängt. Entfaltet wird diese allgemeine Frage nach gerechter Darstellung und Erinnerung von Katastrophalem an den Reportagen Millers und unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Erinnerungs- und Wahrheitskonzepte. Kritisch stellt sich die Frage, ob bei Miller möglicherweise selbst von einer Erinnerungsarbeit zu sprechen ist, die in einem gewissen Sinne als gescheitert einzuschätzen ist.
Benedikt Salfeld ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin (DPG/IPA), Research Fellow an der IPU Berlin und im wissenschaftlichen Beirat der Klaus und Renate Heinrich-Stiftung. Er hat unter anderem zu den Themen Perfektionierung und Optimierung in der Spätmoderne publiziert, schreibt Kritiken für psychoanalytische Fachblätter und arbeitet an einer Promotion zum Thema Junge Erwachsene in der Spätmoderne.