Psychoanalytische Studierendenperspektiven Teil 3

Virologen erklären uns, wie wir Neuansteckungen mit COVID-19 verhindern, die Bundesregierung beschließt Maßnahmen zum „Social Distancing“ und wir alle sollen nach Möglichkeit zu Hause bleiben. Doch was macht das mit uns? In dieser Reihe kommen IPU-Studierende zu Wort, die ihr Erleben der Corona-Zeit zur Sprache bringen.

Gedanken zu Corona

von Daniela Baldelli

Ich stieg gerade in den Zug, nach einem entspannten, ganz normalen Wochenendbesuch bei Freunden, als ich das erste Mal die Angespanntheit und Nervosität der Menschen beobachtete. Leute bestiegen den Zug mit Atemmasken und desinfizierten sich permanent die Hände. Die sonst eher dreckigen Toiletten der Bahn, plötzlich blitzeblank, mit Desinfektionsspender. Ich war irritiert. Langsam, unsicher bewegte ich mich Richtung Sitzplatz und versuchte die restliche Fahrt einfach aus dem Fenster zu schauen und mich so wenig wie möglich zu bewegen.

Hier, in diesem Moment, änderte sich plötzlich alles. In dem Moment, in dem ich den Zug verließ und in Richtung meiner Wohnung ging, verschloss sich die Tür zu dem Leben „vor“ Corona. Das Leben zu Hause, plötzlich wie ein eingefrorener Moment. Das, was ich vorher verdrängte, nämlich die Tatsache, dass dieses neuartige Virus Corona das Leben der Menschen im Grunde ändern wird, wurde zur Realität.

Das „Vorher“ und das „Nachher“ von Corona

Das Jetzt, eine Mischung aus Panik und Angst, Liebe und Hoffnung. Wie wird die Zeit nach Corona sein? Allein schon der Gedanke, dass es ein davor und ein danach geben wird, macht Angst und lässt einen in eine nicht sichere, klare Zukunft blicken. Der Mensch ist plötzlich in der Situation, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und ins Ungewisse zu blicken. Wie findet der Mensch eine Beschäftigung, die ihn befähigt, unter den naturgegebenen Beschränkungen auf dieser Erde zu überleben?

Eine Lösung könnte die dringend notwendige „Innenschau“ sein. Das vorher war „außen“, das jetzt könnte „innen“ sein. Vorher folgten wir dem Strom aus Schnelllebigkeit, Grenzenlosigkeit und Hetze, der den Menschen dazu brachte, gar nicht die Möglichkeit zu bekommen, nach „innen“ zu schauen. Es war fast unmöglich, Zeit zu finden, um sich essenzielle Fragen zu stellen, wie: Wer bin ich? Was bedeutet für mich Dasein? Was ist der Sinn des Lebens? All diese Fragen, die uns Menschen seit jeher interessierten und angespornt haben, waren scheinbar verloren gegangen. Die Ablenkung, die die schnelle Welt uns bot, nahmen wir vollkommen an, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Jetzt sind wir im „allein“ angekommen. Um sich den Gedanken des natürlichen Alleinseins bildlich vorzustellen, schrieb 1958 der englische Psychoanalytiker Donald Winnicott „über die Fähigkeit allein zu sein“ Folgendes:

„Man kann sagen, dass nach einem befriedigenden Geschlechtsverkehr jeder Partner alleine ist und damit zufrieden ist, alleine zu sein. Das Alleinsein zusammen mit einem Partner, der ebenfalls alleine ist und das zu genießen, ist selbst eine Erfahrung von Gesundheit. Ein Mangel der Fähigkeit, das Alleinsein zu genießen, führt zu Angst. Ermöglicht man aber der Persönlichkeit, durch zeitliche Integration, diese Fähigkeit der Einsamkeit zu genießen, könnte somit die Spannung relativiert werden, d.h. Einsamkeit, könnte man dann auch Rückzug nennen.“

Allein kreativ werden oder überfordert mit dem Alleinsein?

Hätte man das Problem des Alleinseins im Griff, könnte man die Zeit zu Hause nun für Kreativität und neue Gedanken nutzen. Wie kreativ gestalten wir die an uns gestellte Herausforderung? Wie finden wir unsere Bedeutsamkeit in der Neuen Welt? Die einen werden die Kreativität nutzen, die aus ihrer Innenschau entstanden ist und sich so weiterentwickeln. Andere werden mit den Umständen überfordert sein und Hilfe benötigen.

Es ging in der Geschichte der Menschheit schon immer um Wandlung. Menschen waren schon immer gefordert, ihr Leben zu gestalten und zu handeln. Die Corona-Krise ist ein Moment der Wandlung.  Wir haben es selbst in der Hand und haben vielleicht die Möglichkeit, die Welt in eine bessere oder andere zu wenden. Doch aktuell gibt es nur das Jetzt, die Gegenwart

Die Anwesenheit von Thanatos

von Marika Böwe

Die heutige Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist geprägt durch Zerstreuung, Verdrängung und Ablenkung. Fast jeder Mensch sucht nach Aktivitäten und Aufgaben, die er oder sie täglich bewältigen muss. Wie in einem Hamsterrad drehte man bis vor kurzem unbeschwert und leicht seine Runden. Man brachte die Kinder von Insel zu Insel – Schule oder KITA, Verein, Musikschule, Schwimmunterricht oder, oder, oder. Man ging einer Beschäftigung nach – Arbeit, Universität, Flaschen sammeln oder betteln. Und egal, was man auch tat, man war unterwegs und lebte so vor sich her. Ohne diese Ordnung verlieren viele den Halt und die Sicherheit, das sollten wir bald spüren.

COVID-19 kam und die Welt hielt plötzlich an – hörte kurz auf sich zu drehen, wie es mir schien. Surreal und völlig utopisch muteten die politischen Konsequenzen erst an – Schul- und KITA-Schließungen, Kontaktverbot und alle Kultureinrichtungen geschlossen. Und was nun? In den ersten zwei Wochen ging es darum, das alles zu begreifen und zu fassen, irgendwie. Man arrangierte sich mit der Situation und der eine oder andere fing bereits an nachzudenken, etwas Ungewöhnliches zu fühlen und sich etwas bewusst zu machen.

In unserem Leben geht es immer schon um Lust und Begehren. Wir wollen das Leben genießen und keine Epoche schaffte mehr Vergnügungs- und Gestaltungsräume als unsere heutige. Lebe, wer Du sein möchtest! Und man kann alles sein und werden, zumindest theoretisch. Natürlich gab es finanzielle oder auch individuelle Grenzen, aber man hätte es sein oder tun können.

Die COVID-19-Pandemie macht uns Thanatos bewusst

Gerade die eigene Sterblichkeit war dem gegenüber schon immer und ist ein Tabuthema. Und in einer Gesellschaft wie unserer passt ein Leiden oder Wimmern, ein Scheitern so gar nicht. Wer gestorben ist, ist irgendwie gescheitert. Sein Leben ist zu Ende. Niemand mag gerne über den Tod sprechen oder nachdenken. Freud formulierte 1920 in Jenseits des Lustprinzips die Vorstellung eines „Todestriebes“, den er auch als „Thanatos“ betitelte. In der griechischen Mythologie ist Thanatos der Überbringer des Todes. Er schneidet den Sterbenden eine Haarlocke ab und übergibt sie Hades, dem Herrscher der Unterwelt, der sie ins Totenreich überführt. Er fungiert sozusagen als Bote und Abholer, als letzter Begleiter aus dem irdischen Leben in den Tod.

Mit COVID-19 haben wir einen unsichtbaren und unberechenbaren Feind vor uns. Er könnte jederzeit uns oder unsere Lieben töten. Es geht um Verlust und Angst vor diesem, aber auch um Loslassen und Akzeptanz. Ich sehe, dass ein Bewusstsein für die Existenz eines sinnbildlichen Thanatos entsteht, ein Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und der aller Menschen erwächst in unseren Herzen und Köpfen. Plötzlich können wir uns nicht mehr ablenken von dieser Erkenntnis: Viele Entscheidungen können nun über Leben und Tod bestimmen.

Angst, Ignoranz, Flucht nach vorne: Wie sollen wir mit der Situation umgehen?

Ich beobachte zurzeit drei Lager in meinem Umfeld. Die einen sehen ängstlich dem Geschehen, das durch das Coronavirus ausgelöst wurde, aus der Ferne zu und verbarrikadieren sich, so gut es eben geht. Sie versuchen Thanatos auszusperren, so, wie sie auch alle Menschen, Nachrichten und auch Gefühle ignorieren. Sie hocken in ihren Stuben und warten ab.

Eine andere Gruppierung um mich herum ignoriert alle Veränderungen durch das Virus einfach und macht wie immer weiter. Diese Menschen verstehen nicht, warum so ein Zirkus um COVID-19 gemacht wird und sie treffen sich einfach weiter mit ihren Lieben und Bekannten. Zwar tolerieren sie, wenn jemand das anders macht als sie, aber innerlich belächeln sie diese armen Leute, die den ganzen Schwachsinn der Politiker und Virologen glauben.

Den Menschen der dritten macht es angeblich keine Angst, vielleicht sterben zu können. COVID-19 solle ruhig über sie kommen, sie könnten es ja ohnehin nicht verhindern. Jeder werde davon mal befallen sein, also wozu warten. Wenn man daran sterbe, dann sei es Schicksal und soll ebenso sein. Zudem trügen sie zu einer Herdenimmunität bei, die im Endeffekt allen Menschen zugutekäme. Wenn sie allerdings Pech haben, dann bezahlen sie ihre Einstellung tatsächlich mit dem eigenen Tod. Sie riskieren, wenn vielleicht auch ungewollt (unbewusst), einen geliebten Menschen direkt oder über sieben Ecken getötet zu haben, denn die Verbindungen zwischen den einzelnen Personen ist auch für sie undurchsichtig.

Die eigene Sterblichkeit bewusst zu machen, ist schmerzlich, kann aber auch helfen

Doch eines scheint mir sicher zu sein: Thanatos ist unter uns! Er wandelt umher und wir entscheiden, wie wir mit ihm umgehen wollen. Aber wie sollen wir diesem unheimlichen Wesen, diesem verdrängten Dämon begegnen? Ich denke, es sollte in diesen Tagen um das „Abwägen“ gehen. Der Mensch neigt in traumatischen Zeiten zu Extremen, wie wir an den drei oben beschriebenen Gruppen sehen können. Doch „Maß halten“, sich zurücknehmen und eigene, vernünftige Entscheidungen in diesen Tagen fällen, setzt eine geistige wie auch emotionale Auseinandersetzung mit COVID-19 voraus. Es ist die „Bewusstmachung“ des eigenen Handelns und Tuns, das nun wichtiger denn je ist. Nur so kann man Entscheidungen treffen, die vielleicht nicht immer schön sind, aber „begründbar“ und „plausibel“.

Besonders wichtig erscheint es mir, der Traurigkeit und Hilflosigkeit Raum zuzugestehen. Das Aushalten von Entsagungen und das Innehalten in vorhandenen Gefühlswelten macht die langen Tage der Kontaktsperre wahrscheinlich erträglicher. Auch hier ist das „Bewusstmachen“ der entscheidende Punkt – das Wahrnehmen und Erkennen der eigenen bunten, vielfältigen und phantasiereichen Innenwelt und der Welten, die durch Andere entstanden sind. Diese Welten anzuerkennen und zu würdigen, kann in meinen Augen Linderung und Ruhe bringen.

Wenn sich die Menschen die Zeit nehmen, sich mit ihrer und der Sterblichkeit der Menschheit überhaupt zu beschäftigen, kann diese Krise auch eine Chance sein. Die Urverdrängung des unvermeidlichen menschlichen Endes in Form des körperlichen Todes läuft wie ein Stummfilm in unserem Leben mit. Sich das bewusst zu machen und Thanatos demütig und wachsam zu beobachten, kann helfen, sich im freien Fall der Pandemie zu finden und irgendwo zu landen.

Die COVID-19-Pandemie betrifft uns alle, aber nicht jeden Menschen gleich. Die Studierenden der IPU sind im Sommersemester 2020 auf digitale Lehrformate angewiesen, sie erleben die Krisenzeit möglicherweise gar nicht in Berlin und sammeln dadurch ganz unterschiedliche Erfahrungen. Ihre Gedanken bekommen hier ein Forum und legen den Fokus darauf, was mit den Menschen passiert, was in ihnen vorgeht, wie sie fühlen in einer Zeit, die Unsicherheit, aber auch Besinnung bedeuten kann.