Im Zuge der Untersuchung einer motorischen Störung der linken Hand wurde IPU-Studierende Anne* über Nacht zur potenziellen Schlaganfallpatientin mit Covid-19-Infektion. Zwei Tage war sie mit dem Schrecken konfrontiert, möglicherweise alleine sterben zu müssen, ohne Abschied nehmen zu können. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
*Name zum persönlichen Schutz der Protagonistin geändert
Nach einer ausgiebigen Radtour am letzten Tag der Semesterferien stehe ich vor meinem Haus. Es ist ein seltsames Gefühl. Die letzten Wochen habe ich den Beginn des neuen Semesters zugleich herbeigesehnt und gefürchtet. Endlich wieder eine Art Tagesstruktur, ein gemeinsames Auseinandersetzen und Entwickeln. Doch wird diese Art von Auseinandersetzung – online, ohne den anderen wirklich leiblich zu begegnen – auch nur im Entferntesten die Qualität eines lebendigen Austauschs haben, den ich über das letzte Semester an der IPU so schätzen gelernt habe? Es wäre beschönigend, würde ich davon sprechen, dies nur zu bezweifeln. In Gedanken verloren versuche ich die Tür zu öffnen. Doch irgendetwas klappt dabei nicht so ganz. Meine Finger wollen nicht so, wie sie sollen. Das Umdrehen des Schlüssels erfordert einen unglaublichen Kraftakt. Zuerst denke ich, es ist etwas mit dem Schloss nicht in Ordnung. Doch als ich es mit der anderen Hand versuche, kann ich keinen größeren Widerstand als sonst feststellen. Ich runzle die Stirn und hake das Erfahrene vorerst als unbedeutende Merkwürdigkeit ab.
Der nächste Tag ist gehüllt in eine Schale, die Isolation wird durch die Online-Seminare noch deutlicher spürbar, die Abziehbildchen der anderen in Zoom erzeugen ein Gefühl wie hinter einer Glaswand zu sitzen. Viele Gesichter auf diese Weise vermittelt wiedersehen zu können, erzeugt kurze Augenblicke der Freude, die es aber nicht schaffen, sich über die bestehende Beklemmung zu legen. Wie Sonnenstrahlen, die kurz hinter einer Wolkenwand aufblitzen, von dieser jedoch sofort wieder verschluckt werden, können sie das Gefühl der Umhüllung nicht auflösen. Ein Bild zur Schilderung dissoziativer Zustände kommt mir in den Sinn: Das Eingebettetsein in ein Meer aus Wolken.
Am Abend, nachdem ich mir Spaghetti aglio e olio gemacht habe, stelle ich fest, dass ich den Löffel in der linken Hand nicht richtig halten kann. Es geht irgendwie gerade so, aber fühlt sich nicht so an, als hätte ich die gewohnte feinmotorische Kontrolle. Mit einem Anflug von Beunruhigung schreibe ich meinem Vater, der Arzt ist, woraufhin er mich anruft und mir rät, so schnell wie möglich mit einem Neurologen zu sprechen. Kurzerhand lasse ich einen Haufen frisch gewaschener Wäsche und einen Topf voller Nudeln in meinem Zimmer zurück, in der Zuversicht, am selben Abend wieder nach Hause zu kommen, und mache mich auf den Weg ins Krankenhaus.
Nachdem mich der Pförtner erst ziemlich schroff zurückhält, lässt er mich nach Schilderung der Lage gewähren. Ich betrete die Rettungsstelle, wo ich als einzige Patientin sofort untersucht werde. Die behandelnde Neurologin kündigt an, ein CT würde folgen. Ein MRT könne man allerdings erst am nächsten Morgen machen, weswegen sie mir dringend rät, über Nacht dazubleiben. Kurz verspüre ich den Impuls, entgegen des ausdrücklichen ärztlichen Rats, mit dem Rad nach Hause zu fahren, um am nächsten Morgen wiederzukommen. Auch wenn es mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Sinn kommt, ist dieser Fluchtimpuls im Nachhinein betrachtet möglicherweise Ausdruck einer unbewussten Angst vor Covid-19 gewesen, die mir in dem Moment nur als ein mir sonst unbekanntes Unbehagen bei dem Gedanken an einen Krankenhausaufenthalt erschien. Als ich nach meiner Entscheidung gefragt werde, antworte ich dennoch aus dem Bauch heraus, dass ich bleiben würde. Mein Vertrauen in die Kompetenz des ärztlichen Rats überwiegt. Zu meinem Nachteil, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte.
Als ich im Rollstuhl zur Stroke Unit geschoben werde, muss ich mir vorstellen, wie ich auf dem Heimweg in Folge eines Schlaganfalls vom Rad hätte fallen können, hätte ich meinem Fluchtimpuls nachgegeben. Schon einige Tage vorher träumte ich, mir würde beim Fahrradfahren auf einmal schwarz vor Augen. Im Allgemeinen ist mir das Fahrrad, mit dem ich bis vor kurzem noch viele Ausflüge ins Berliner Umland unternahm, in Zeiten von Corona mehr noch als zuvor zum Werkzeug geworden, die städtische Klaustrophobie zu überwinden. So stelle ich eine Form von in sich gekehrtem Alleinsein her, das psychisch im Gegensatz zur aufgezwungenen Einsamkeit durch soziale Isolation steht. Das Fahrrad wurde so zu einem Symbol meiner Freiheit. In meinen Träumen könnte sich dann die Angst widergespiegelt haben, diese Freiheit zu verlieren. Sei es durch den Bewusstseinsverlust beim Fahrradfahren, durch das Versinken des Rads im Meer oder dadurch, dass es jemand hoch oben an einen Laternenmast hängte, wo ich es nicht erreichen konnte. Die Fantasie, beim Fahrradfahren einfach tot umzufallen, verstehe ich nicht nur als Angstinhalt, dem ich gerade noch entkommen bin. Sie barg etwas Lustvolles in sich: Die Vorstellung, die Sicherheit der Freiheit zu opfern. Gleichzeitig zeigte sich in ihr der denkbar einfachste Weg, sich passiv den komplexen und noch unüberschaubaren Anforderungen der Krise zu entziehen.
Die Nacht verbringe ich kaum mit Schlaf. Das andauernde Piepsen der zahllosen Gerätschaften, an die ich und meine Zimmernachbarinnen angeschlossen sind sowie die wachsende Beunruhigung halten mich wach. Einzig besänftigend wirkt das Blubbern eines sauerstofferzeugenden Apparats. Gedanken über Corona drängen sich mir auf. Eine Zimmergenossin hustet. Ich versuche, mir zu versichern, dass die Koordination im Krankenhaus nicht dabei fehlgeschlagen haben konnte, Patienten ohne und mit akutem Verdacht auf eine Infektion zusammen in einem Zimmer unterzubringen.
Als ich am nächsten Morgen Gesprächsfetzen aufschnappe, die mir verraten, dass die ehemalige Zimmergenossin zweier meiner Zimmergenossinnen nun ein positives Testergebnis erhalten haben, wird mir klar, dass die Organisation versagt hat. Um die weitere Ausbreitung zu stoppen, wird zunächst unser Zimmer isoliert, die beiden Kontaktpersonen der positiv Getesteten verlegt und selbst getestet. Ich gerate in einen Zustand des ständigen Wartens und Geiferns nach neuen Informationen. Da niemand direkt zu mir spricht, ich alles nur durch Lauschen des Flurfunks mitbekomme, entsteht eine enorme Unsicherheit. Sind wir nun in Quarantäne oder nicht? Auch das Personal scheint sich darüber nicht einig zu sein. Nachdem mich eine Schwester durch den Flur begleitet, um meine motorischen Fähigkeiten zu testen, erscheint eine andere und weist sie zurecht. Nachdem ich in Unruhe das fünfte Mal durch den Flur gehe – natürlich mit Atemschutzmaske und Abstand –, um zu erfragen, was denn nun unsere Situation ist, bekomme ich die ausdrückliche Anweisung, im Zimmer zu bleiben.
Dieses wurde in der Zwischenzeit gründlichst gereinigt, während meine verbliebene Zimmergenossin und ich in einem abgeschiedenen Raum ausharren mussten. Nun sitzen wir gemeinsam fest. Die meiste Zeit schweigen wir. Da ich Hals über Kopf das Haus verlassen und nicht damit gerechnet habe, über Nacht zu bleiben, habe ich nichts bei mir bis auf ein Buch über die Psychodynamik von Zwangsstörungen, das nun schon ausgelesen ist. Auch mein Handyakku ist leer und ich habe kein Ladekabel bei mir. Gerade noch konnte ich meine nächsten Angehörigen darüber informieren, dass sie wahrscheinlich erstmal nichts von mir hören werden. Ich denke über den zwanghaften Charakter von blind ausgeführten Hygienemaßnahmen und die stabilisierende Funktion nach, die ein Zwangssymptom haben kann.
Es stellt sich zunächst eine völlige Ideenlosigkeit ein. Ich überlege aus Alternativlosigkeit, dasselbe Buch einfach gleich noch einmal zu lesen. Andauernd tippe ich auf mein Smartphone, um zu sehen, ob es nicht doch wieder angeht. Denke darüber nach, ob diesem fast automatisierten Mechanismus eine Art unbewussten magischen Denkens zugrunde liegt, die tiefsitzende Überzeugung, das Gerät mit meinen Händen neu aufladen zu können. Die Sonderausgabe der Psyche letzten Jahres mit dem Thema Digitalisierung kommt mir in den Sinn. Der smartphonelose Zustand erzeugt ein Gefühl von Unvollständigkeit. Die digitale Prothese ist mir entglitten. Ich erlebe mich handlungsunfähig, kann die Welt nicht mehr greifen und mich nicht mehr durch sie hindurchbewegen. Was sich in den letzten Monaten in den Mahnungen angebahnt hat, so wenig Wege wie möglich zurückzulegen und seine Hände, durch die die Welt erst greifbar wird, mehr und mehr als gefährliche Kontaminationsmaschinen zu verstehen, tritt mir jetzt in absoluter Form entgegen. Das Nichtstun lässt mich das Zeitgefühl des Geschehens verlieren.
Ich fange an, auf ein Blatt Papier zu kritzeln, dass die Ergotherapeutin im Zimmer hat liegen lassen. In kleinstmöglicher Schrift, das Gefühl von Enge überträgt sich auf das Papier. Die Knappheit von Raum, Kontakt und Möglichkeiten wird gefühlt zur Knappheit von allem. Ich kann für ein paar Minuten das Stationstelefon ergattern, mein Mitbewohner lässt mir ein Ladekabel bringen: Es ist das falsche. Beim nächsten Versuch geht sein Päckchen auf dem Weg vom Pförtner zu mir irgendwo verloren. Ich schreibe das Erlebte auf.
In einem Moment, in dem ich alleine in der Mitte des Raumes stehe und mir gewahr werde, dass ich mich gerade womöglich in der denkbar schlechtesten Situation befinde – infiziert mit Covid-19 auf der Schlaganfallüberwachungsstation – kann ich trauern. Das mit allen Mitteln abgewehrte Gefühl von Einsamkeit überflutet mich und mir fließen Tränen übers Gesicht. Doch es ist kein Moment von Verzweiflung, sondern ein Wiederaufnehmen des Kontakts zu meinem Inneren, ein Augenblick des Bewältigens der mich vorher überwältigenden Angst. Diese verschwindet nicht, doch ich bekomme das Gefühl, mich damit auseinandersetzen zu können und werde ruhiger. Die nächste Nacht schlafe ich durch. Als am Morgen von den Ärzten unerwartet das positive Testergebnis einer ehemaligen Zimmergenossin vorliegt und meine verbliebene Zimmergenossin und ich von Kontaktpersonen einer Kontaktperson zu Kontaktpersonen werden, unsere Verlegung und Testung geplant werden, bleibe ich ruhig. Alles dauert wie immer viel länger als vorher geschätzt, weiterhin redet niemand wirklich ausführlich mit uns, um uns über die Lage aufzuklären. Doch ich habe mich daran gewöhnt. Nachdem wir uns alles Gute gewünscht haben, schieben mich die Schwestern in mein neues Domizil, ein leeres Vierbettzimmer am Ende eines sehr langen Flures. Sie scherzen mit mir darüber, dass ich dort sogar tanzen könne, so groß sei der Raum. Unter völlig unerwünschten Bedingungen wird so für mich der länger gehegte Wunsch wahr, alleine zu wohnen, Raum für mich zu haben.
Dort angekommen setze ich mich sofort ans Fenster und schreibe, stehe immer wieder auf, um durch den Raum zu wandern, pfeife Melodien, die ich mir ausdenke, denke nach. Nachdem der Abstrich erfolgt ist, erhalte ich endlich ein Telefon und mir wird gesagt, mein Vater werde in einer halben Stunde darauf anrufen. Ich frage jemanden, ob auch meine Freundin kontaktiert werden könne, um ihr Bescheid zu geben, dass ich erreichbar bin. Stunden vergehen, nichts passiert. Irgendwann am Abend erhalte ich unverhofft eine Tasche, die für mich abgegeben und vergessen wurde. Meine Freundin hat mir ein paar Sachen zusammengepackt, unter anderem ein neues Ladekabel. Ich werde aufgedreht, schließe mein Handy an, schreibe meinen Freunden, telefoniere mit meiner Freundin und meinen Eltern, komme aus dem Plappern gar nicht mehr heraus. Die Verarbeitung des Geschehenen setzt sich in die Außenwelt fort. Erst jetzt erfahre ich per SMS von dem zweiten Versuch meines Mitbewohners, mir ein Ladekabel zukommen zu lassen. Das und der gescheiterte Versuch, mittels des erhaltenen Kabeltelefons eine Verbindung nach draußen herzustellen, ärgert mich nun nicht mehr. Am Abend erhalte ich ein negatives Testergebnis.
Die Neurologin, mit der ich am nächsten Morgen spreche, gibt mir zu verstehen, dass der Verdacht auf einen Schlaganfall zwar entkräftet ist, ich aber nach wie vor nicht an die diagnostischen Instrumente gelassen werde, die einen solchen ausschließen könnten. Auch werde ich trotz des negativen Testergebnisses wegen des Restrisikos weitere zwei Wochen in Quarantäne verbringen müssen. Der eigentliche Grund, warum ich überhaupt erst ins Krankenhaus gekommen bin, lässt sich also vorerst nicht abschließend klären. Vielmehr hat sich durch mein Aufsuchen der Ambulanz die neurologische Abklärung um Wochen verzögert. Doch immerhin kann ich trotz einer großen WG mit einigem Mehraufwand eine Heimquarantäne organisieren, die die Vorgaben des Robert-Koch-Instituts erfüllt. Mein Vorschlag, noch einige Tage im Krankenhaus zu bleiben, um dann durch einen erneuten Test eine Infektion sicherer auszuschließen, wird in Absprache der Ärzte mit dem Robert-Koch-Institut verworfen, obwohl ich die problematische Lage einer großen WG mit einem Mitbewohner, der Arbeitskontakte zu Hochrisikopatienten hat, mehrfach anspreche. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass in der jetzigen Situation jede Entscheidung unter Abwägung verschiedenster unkontrollierbarer Faktoren getroffen werden muss, die Eindeutigkeit einer richtigen oder falschen Entscheidung selten gegeben ist.
Der Verlauf der letzten Tage ließ mich einmal mehr am eigenen Leib erleben, wie brüchig die Illusion der Kontrolle über das eigene Leben, wie fragil das sich täglich reproduzierende Miteinander, kurzum wie voraussetzungsreich Gesellschaft und das mit dieser verzahnte individuelle Leben ist. Das weiterhin andauernde Warten darauf, dass ich endlich nach Aufheben der Quarantäne das unternehmen kann, wozu ich ursprünglich ins Krankenhaus gekommen war – einen Schlaganfall auszuschließen – führt mir vor Augen, dass es eine Sicherheit vor dem Tod nicht gibt, dass jeder funktionale Umgang mit dem eigenen Ende immer ein Quantum Verleugnung beinhalten muss, doch zu leben gleichzeitig eine Auseinandersetzung damit erfordert. Genau wie die Abschaffung des Todes ist das Verschwinden von Covid-19 eine Utopie, deren Verwirklichung sich nur denken lässt als die Umwälzung der Gesellschaft zu einer, in der Profit nicht über dem Leben Einzelner steht, deren Ziel nicht die blinde Selbstverwertung, sondern ein gutes Leben für alle ist. Der Tod ist unausweichlich und auch Covid-19 wird sich unvermeidlich weiter ausbreiten. Doch die Umstände, unter denen wir beidem begegnen, könnten andere sein.