Overkill – Autoethnographische Notizen zur Corona-Pandemie Teil 3

Phil Langer schreibt aus Wien – aus der sozialen Isolation, während der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie, mit sozialpsychologisch geschultem Blick. Seine Gedanken schweifen durch persönliche Gefühle und Erlebnisse aus der Forschungspraxis. In Corona-Zeiten zeigt er uns aus der Innensicht, wie weit die Welt ist.

Teil 3: In Afghanistan.


Manchmal erinnert mich die aktuelle Situation – meine Situation im Hier und Jetzt der Wohnung, die ich nur selten verlasse, die ich nicht verlassen soll, deren Verlassen mit existentiellen Risiken verbunden wird, deren Eintreten indes nicht gut abgeschätzt werden können, das Zurückgeworfensein auf den engen physischen und sozialen Raum und der Kontaktaufnahme mit Familie, Freund_innen und Kolleg_innen über Viber oder Skype – an Afghanistan. Konkret an meinen Aufenthalt in Kunduz vor ziemlich genau fünf Jahren. Es war Anfang April 2015, als ich mit meiner afghanischen Wahlmutter Shaista im Rahmen einer explorativen Feldforschung für das später von der Deutschen Stiftung Friedensforschung finanzierte Projekt „Wenn der Krieg im Kopf den Blick auf Frieden trübt"1 für etwa drei Wochen in Afghanistan unterwegs war, fast zwei Wochen davon in Kunduz, bei einem Freund von Shaista und seiner Familie in ihrem Haus nahe des Bazars. Ich war schon vorher mal in Kunduz gewesen, mit der Bundeswehr, als ich noch für dessen Sozialwissenschaftliches Institut gearbeitet hatte, ebenfalls zur Forschung, jedoch mit dem Blick auf die Erfahrungen der Soldat_innen im Einsatz und meinem besonderen Fokus auf die interkulturelle Dimension des Einsatzes.2

Als wir damals, im Mai 2010, nach Afghanistan geflogen waren, mit einer von der Bundeswehr genutzten Maschine mit Soldat_innen über den an der Grenze liegenden Stützpunkt in Termez nach Mazar-e-Sharif und im Anschluss gleich mit einer Transall nach Kunduz, war die Lage, wie es militärisch heißt, bereits angespannt. Deutsche Soldat_innen waren in den sogenannten Karfreitagsgefechten mit den Taliban getötet worden, die ersten „im Kampf“ gefallenen bundesrepublikanischen Soldat_innen, der damalige Verteidigungsminister Guttenberg sprach kurz darauf – die subjektive Perspektive vieler Soldat_innen affirmativ übernehmend – von „Krieg“, die Toten avancierten zu „Gefallenen“, ein „Ehrenmal“ wurde in Berlin errichtet.

Ich erinnere mich, dass ich bei der Ankunft in Kunduz, beim Ausstieg aus der Transall assoziativ an den Film „Pandora“ gedacht hatte, das heldenhafte – aber eben auch irgendwie koloniale, in jedem Fall gewaltverbundene – Ankommen in schönen und zugleich fremden Welt, die da draußen jenseits der Zäune und Mauern lauerte. (Pandora. Pandemie. Das passt.) Dass der Film drei Wochen später beim wöchentlichen Kinoabend im Camp mit süß-salzigem Popcorn Camp gezeigt wurde, sei der Vollständigkeit halber als unbedeutende Randnotiz vermerkt. In Kunduz jedenfalls war von der Hollywoodinszenierung wenig zu spüren, die Landephase der Transall erfolgte bereits in Pendelbewegungen, um kein einfaches Ziel für Raketen zu sein, von denen eine gleich am ersten Abend auf das Lager abgeschossen wurde. Wir konnten das Camp nur selten verlassen, bei kürzeren Einsätzen von Einheiten außerhalb des Lagers, zur Begleitung zu einer Besprechung zum Police Compound in Imam Sahib im Norden zum Beispiel und an einem Abend mit dem Vertreter des Auswärtigen Amtes in zivil ohne Bewachung in ein Hotel in Kunduz. Das einzige wohl, in dem Ausländer, Reporter_innen und Mitarbeiter_innen noch unterkommen konnten nach der Verschärfung der Sicherheitslage. Ein allgegenwärtiges Gefühl der Unsicherheit. Krieg eben, ein asymmetrischer aus militärischer Sicht zumindest. Von der Stadt selbst hatte ich da kaum etwas gesehen, nur kurz aus dem Panzer heraus, ein paar Kinder vor allem, Häuser, Geschäfte.

Als ich dann fünf Jahre später wieder nach Kunduz kam, diesmal ganz in zivil, im Auto von Freunden von Freunden, in Pashtunklamotten, war die Lage aus militärischer Sicht weit schlimmer, die mehr als fünfstündige Fahrt führte uns durch Provinzen und Gegenden, die nicht mehr von der Regierung kontrolliert waren. Selbst aus Sicht der afghanischen Bekannten, die die Situation in 2010 als eher harmlos erinnerten, überwog ein Gefühl der Unsicherheit, zumindest was uns betraf – oder mich, der unrasiert und gebräunt und verkleidet zwar nicht auf Anhieb als Europäer erkennbar war, beim ersten Wort jedoch zweifellos. Zumal unser Gastgeber als kritischer Journalist ein Anschlagsziel der Taliban gewesen ist. Das Haus, in dem wir unterkamen, konnten wir nur selten verlassen, zu groß schien die Gefahr vor allem für mich zu sein. Ob das so war, konnte ich nicht sagen, ich wusste es einfach nicht. Mit Obaid konnte ich ins Fitnessstudio und auf den Markt und zur Datenerhebung an eine Schule, mit Zabi zu Fußballspielen, offizielle Besuche beim Gouverneur und Polizeipräsidenten mit Video für regionale Fernsehen gehörten zur Selbstverständlichkeit und erleichterten nicht gerade den Versuch, „unterm Radar“ Forschung zu betreiben.

Dass die Gefahr real war, zeigte sich, als einen Tag vor der Rückfahrt nach Mazar ein deutscher Mitarbeiter der GIZ von den Taliban entführt wurde, eben auf jener Straße, die auch wir am nächsten Tag nehmen mussten. Der Aufenthalt in dem Haus, in dem ich mich als fremder Mann nur im unteren Stockwerk aufhalten durfte, inklusive den wenigen Metern vor dem Haus zum Tor für die Zigarette, war nicht einfach für mich. Es gab eigentlich nur den einen größeren Raum, der als Aufenthaltsraum für alle diente, in dem von früh bis abends die Kinder spielten, die ebenfalls aus Sicherheitsgründen nicht aus dem Haus durften, außer ein- oder zweimal in der Woche kurz zum mauernumwehrten Spielplatz, mit bewaffnetem Bodyguard zu acht im kleinen weißen Toyota Corolla. Wir aßen in dem Raum, wir unterhielten uns, wir schauten fern, wir saßen am Computer, waren im Internet, wenn es Strom gab, und wenn alle zu Bett gegangen waren, war dies auch mein Schlafzimmer, auf einer der Matratzen auf dem Boden mit den Kissen, wo wir tagsüber saßen, aßen, spielten, lachten, rauften, trauerten. Mit der Lampe über mir, die sich nicht ganz ausschalten ließ, auch nachts mit Wackelkontakt ständig blinkte und blitzte. Ich überlegte mir nachts manchmal, was ich machen würde, wenn das Haus überfallen würde, dies war ja der erste Raum in den sie kommen würden, alle anderen schliefen ja in den Stockwerken darüber. Konnte ich durch eines der Fenster entkommen? Wohin führte es? Ich konnte nur grob einen kleinen Garten und einen verfallenen Zaun sehen, eine Mauer. Ich wäre wohl nicht weit gekommen. Die meiste Zeit der fast zwei Wochen war ich im Haus. Ich wartete: Auf das Essen, das ich mir nicht selbst machen konnte, weil die Küche oben war, auf Nachrichten vom Außen, ich las etwas, ich schrieb etwas, ich spielte mit den Kindern, ich checkte die Mails, wenn es denn mal ging, wenn Strom und Internet liefen, wir redeten viel. Immer ging es irgendwann um die Sicherheitslage, neue Einschätzungen angesichts neuer Anschläge, Bilder der enthaupteten Polizisten in Badachschan, mit deren Köpfen Fußball gespielt wurde von in schwarz gekleideten Kämpfern, eines der ersten deutlichen Zeichen, dass ISIS in Afghanistan angekommen war. Niemand konnte genau sagen, was als nächstes kommen würde, ob es auch mal besser werden würde. Jedes Gespräch aber endete mit einem „wenn das vorbei ist, wenn es wieder friedlich ist, when the war is over, dann…“. Beim nächsten Mal vielleicht schon könnte man dies und das tun, Möglichkeiten, die es mal gab, eine Normalität, die wiederkommen würde, zumindest in den Anrufungen der Freunde und Bekannte, in der kollektiv beschworene Utopie.

Ich bin nicht mehr nach Kunduz gekommen seitdem. Dreimal wurde Kunduz von den Taliban gewaltsam eingenommen. Ein Freund aus Kunduz konnte einmal im Kofferraum eines Onkels versteckt gerade noch aus der Stadt fliehen. Die Blicke der Frauen in Mazar, die uns im Interview erzählten, wie sie über Leichen steigen mussten, die auf der Straße lagen, werden mir immer in Erinnerung bleiben. Wenn es nach dem letzten Friedensabkommen zwischen den USA und den Taliban, an dem die afghanische Regierung nicht beteiligt gewesen ist, wirklich dazu kommen sollte, dass es friedvoller im Land zugeht und das „dann“ eingelöst werden könnte, wird es eine andere Realität sein, in der sich das Land befindet, eine neue Normalität, die erst aufgebaut werden muss und deren Konturen noch nicht einmal vage absehbar sind, eingedenk von Jahrzehnten der Gewalt, die das Land draußen und die Menschen drinnen für immer aufs Tiefste beschädigt hat und die über Generationen hinweg ihre Folgen zeitigen wird.

Die Erfahrungen, die wir gemacht haben, schreiben sich ein, rahmen, prägen, bestimmen die Wahrnehmungen des jeweiligen Heute, legen Handlungsoptionen nahe, verunmöglichen andere. Victor Klemperers Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus zeugen davon sehr eindrücklich.3

“Save the summer. #Staythefuckhome” habe ich heute als großes bunt bedrucktes Plakat an einem Balkon an einem Haus am Donaukanal gesehen. Eine schöne Vorstellung, die ich gern teilen können würde.

Anmerkungen

[1] Langer, P. C., Ahmad, A.-N., Auge, U. & Majidi, K. (2019). Glimpses of Hope in the Shadow of War. The Afghan Youth Project. A report on selected research results and policy implications. Berlin: IPU Berlin.  www.ipu-berlin.de/fileadmin/downloads/news/Afghan_Youth_Project_Report2019.pdf; Langer, P. C., Ahmad, A.-N., Auge, U. & Majidi, K. (2020).

Jugend in Afghanistan. Ringen um Hoffnung in Zeiten des Krieges. Gießen: Psychosozial.
[2] Seiffert, A., Langer, P. C. & Pietsch, C. (Hrsg.). (2011). Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan: sozial-und politikwissenschaftliche Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.
[3] Klemperer, V. (2012). Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933-1945. Eine Auswahl. Berlin: Aufbau Digital.

Phil Langer ist Professor für Psychoanalytische Sozialpsychologie und Sozialpsychiatrie an der IPU Berlin. Er forscht viel im internationalen Kontext, etwa zu Psychosocial Needs of Former ISIS Child Soldiers in Northern Iraq, The Afghan Youth Project, What Helps the Helpers? Responding to Staff Care Needs in Fragile Contexts und Trajectories of Flight and Migration and possible Constructions of a Future of young Refugees in in Germany. Derzeit ist er zu Gast an der Universität Wien, wo ihn auch die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie erreichten. In seinen Notizen berichtet er über sein Erleben während der Pandemie, zieht Querverweise zu Erfahrungen aus seiner Forschungspraxis und reflektiert mit sozialpsychologischem Blick das Weltgeschehen aus der forscherischen Innensicht der sozialen Isolation. Seine Betrachtungen beginnen am 20. März.