Phil Langer schreibt aus Wien – aus der sozialen Isolation, während der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie, mit sozialpsychologisch geschultem Blick. Seine Gedanken schweifen durch persönliche Gefühle und Erlebnisse aus der Forschungspraxis. In Corona-Zeiten zeigt er uns aus der Innensicht, wie weit die Welt ist.
Es ist seltsam: Da ermutige ich andere, aufzuschreiben, was gerade in und mit ihnen und um sie herum vorgeht, einen Reflexionsraum zu schaffen, der ein wie auch immer tentatives Verstehen von etwas, was man noch nicht greifen kann, weil man ein Teil von ihm ist, und was das Potential hat, einen zu überwältigen, gerade weil es ungreifbar, unbegreifbar ist, ermöglichen und dadurch ein wie auch immer illusorisch anmutendes Gefühl, wenn schon nicht der Kontrolle, so doch der Handhabbarkeit hervorbringen könnte. Und ich selbst komme heute erst dazu, ein paar Gedanken und Gefühlen zu formulieren.
Die Dringlichkeit und das Ausmaß dessen, was die Corona-Pandemie zeitigt oder erst zu zeitigen beginnt, habe ich ja schon im Januar hervorgehoben, damals noch in Berlin, in meinen Vorlesungen zur Sozialpsychologie an der IPU, im privaten Gespräch mit Freunden und Bekannten. Später, wenn das hier vorbei ist, müsste ich glatt mal meine Viber- und Whatsapp-Messages prüfen, um zu sehen, was ich wann geschrieben habe, wie sich meine eigene Wahrnehmung verändert hat und erst langsam und kaum merklich, dann rasant und sprunghaft, die eingeübten psychischen und sozialen Verarbeitungsmechanismen überfordert wurden. Der Vergleich zur Spanischen Grippe in Bezug auf die mögliche Zahl von Infizierten und Toten habe ich schon früh gezogen1, auch den Hinweis auf die Bedeutung der Pandemie als ein Ereignis, das in seinen Folgen kein vergleichbares nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt habe. Aber waren das nicht nur leere Prognosen? Leer in dem Sinn, dass ich vielleicht eine Vorahnung hatte, wie sich das entfalten könnte, aber dass damit keine Bilder, keine Narrative, auch kein existentielles Gefühl verbunden gewesen ist.
Ich habe zugeschaut, von Berlin aus, dann von Rom, der Blick ging Richtung China, dann wieder von Berlin, diesmal bereits Richtung Rom, meiner zweiten oder dritten Heimat. Ich war noch Mitte Januar beim Skifahren im Kleinwalsertal, bin schließlich nach Wien gezogen, um für ein Jahr eine Gastprofessur zu übernehmen. Hier in Wien plante ich noch eine Forschungsreise nach Jordanien, die eben am heutigen Tag hätte beginnen sollen, verbunden mit der Vorstellung, vor dem Workshop mit einer Flüchtlingsorganisation in Amman, mit der wir seit einem Jahr zusammenarbeiten, um einen Ansatz zur Reduktion der psychosozialen Belastungen der Mitarbeiter_innen einzuführen2, noch den ein oder anderen Tag am Toten Meer verbringen zu können: In der dort, wie meine Wetter-App täglich vermeldete, schon warmen Märzsonne am Strand zu liegen, mit einer Shisha den Sonnenuntergang zu genießen. Nächste Woche wären dann Moderationen und Vorträge in Berlin und München auf dem Programm gestanden, danach ein Wochenende mit Skifahren in Garmisch. Wie seltsam das doch klingt, von heute aus, obwohl es vor kurzem noch die Normalität von meinem – mal mehr, mal weniger – geordneten und planbaren Leben dargestellt hat. Und wie unangenehm peinlich sich diese privilegierte Normalität beim Schreiben dieser Zeilen ausnimmt.
Mein Partner war, in Rom lebend und arbeitend, schon länger mit der Pandemie in Italien konfrontiert, war näher dran, aber selbst da schien es noch der Norden zu sein, in dem sie sich abspielte, nicht nah genug. Als ich kurz vor dem Umzug nach Wien noch in Albanien war, um einen Workshop zu leiten, mit Psycholog_innen und Sozialarbeiter_innen, die mit sogenannten Remigrant_innen arbeiten, einem dieser etwas euphemistischen Bezeichnungen für Menschen, deren Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland durch abgelehnte Asylbescheide allzu oft in zwangsweisen Rückführungen endet. Da erlebte ich das erste Mal eine zumindest symbolische Nähe: Die Temperaturmessung am Flughafen Tirana. Eine Momentaufnahme, etwas absurd in der Inszenierung, die entschuldigende Geste des medizinischen Personals, das gemeinsame befreite Auflachen, als mir meine Fieberfreiheit auf dem Display gezeigt wurde. Schon näher dran, aber immer noch nicht nah genug, fern genug, um das alles als ein Problem anderswo und als ein Problem der Anderen zu denken.
In meinen Kursen betone ich oft, wie dünn und von wie vielen Illusionen getragen das vermeintlich feste Fundament unserer gesellschaftlichen Welt sei, beziehe das aber meist auf Konflikte, Kriege, Terror, Genozid.3 Wenn sich der US-Präsident D. J. Trump gestern als Kriegspräsident benannt hat, dann hat er nicht unrecht, aber eben auf eine andere Art als die, die er meinte: Es ist kein Krieg gegen das Virus oder die Pandemie (eine metaphorische Rahmung, deren problematische Implikationen Susan Sontag in ihrem Essay „Krankheit als Metapher“ in Bezug auf Krebs und Aids schon vor ein paar Jahrzehnten präzise herausgearbeitet hat4); vielmehr setzt die Pandemie einen Schrecken in Szene, der dem der Erfahrung des Krieges durchaus nahekommt. Beides zerstört das Gefühl von Sicherheit, von Normalität, von sozialem Vertrauen, einem Vertrauen in die Welt da draußen, die immer auch eine Welt des Miteinander ist, eines Miteinander, das wird in diesen Tagen deutlich, das immer auch ein physisches ist.
Die ersten Tage hier in Wien schienen indes noch heiter und sorgenfrei, der Universitätsbetrieb lief an, mit Freund_innen und Kolleg_innen ging ich essen, ich spazierte durch die Stadt (an deren Stelle ich gerade als spannende Fehlleistung „Tage“ geschrieben habe), entdeckte das Fitnesscenter, die Tage wurden wärmer. Dann ging alles schnell, muss schnell gegangen sein, es wäre hilfreich, mal die medialen Nachrichten der letzten drei Wochen genau zu lesen, den Ablauf zu rekonstruieren, ein Fundus für diskursanalytische Abschlussarbeiten später einmal. Das scheint schon sehr weit weg, sehr lange her. Wir hatten an der Universität Wien schon in der zweiten Semesterwoche auf E-Learning umgestellt, die Gebäude wurden geschlossen, zunächst für die Studierenden, dann für alle, die Geschäfte machten zu, die Restaurants durften nur noch bis 15 Uhr öffnen, zunächst, dann plötzlich gar nicht mehr. Auch die Absagen für die Veranstaltungen in Berlin und München und andernorts kamen nach und nach, dass man am virologischen Kongress am längsten versucht hatte festzuhalten, sei nur als tragikomische Randnotiz erwähnt. Wir sagten die Forschung in der Türkei ab, die meine Kolleginnen Aisha-Nusrat Ahmad und Ulrike Auge durchführen sollten, zusammen mit dem Team eines Kollegen einer anderen Universität, der unsere Absage noch nicht richtig einordnen konnte, als ich sie ihm per Mail mitteilte und dann am Telefon erläuterte. Kurz darauf war dann auch er gezwungen nachzuziehen. Nicht nur hatte Jordanien seine Grenzen geschlossen, auch die Türkei traf bereits Vorkehrungen. Unabsehbar, wie sich die Situation dort entwickeln würde, wenn die Pandemie die Region erfassen würde, wenn sich das Virus in den Campus ausbreiten würde, von denen wir seitdem ja kaum mehr etwas gehört haben, kaum vorstellbar, dass es nicht schon längst dort ist, wo die Empfehlung, sich lang und intensiv die Hände zu waschen so absurd ist, weil es dort schon an Wasser zum Trinken mangelt. Die Vorstellung von Ausgangsbeschränkungen oder Quarantäne ist lächerlich, wie soll das gehen in der unübersichtlichen Enge windiger Zelte, erdiger, matschiger, vermüllter Wege dazwischen, wo es nicht mal ansatzweise eine auch nur grundlegende medizinische Versorgung gibt. Unabsehbar auch, wie die türkische Regierung auf die Ausbreitung im eigenen Land reagieren würde, ob die Wahrnehmung einer Krise im Inneren durch Forcierung militärischer Aktivitäten in Syrien versucht werden würde zu überspielen.
Anmerkungen
[1] Spinney, L. (1918). Die Welt im Fieber: Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. München: Hanser.
[2] Jacobi, J., Becker, D., Langer, P. C. et al. (2020). Responding to Staff Care Needs in Fragile Contexts (REST)
. Eschborn: GIZ. www.ipu-berlin.de/fileadmin/downloads/forschung/what-helps-the-helpers-introductory-guide.pdf.
Phil Langer ist Professor für Psychoanalytische Sozialpsychologie und Sozialpsychiatrie an der IPU Berlin. Er forscht viel im internationalen Kontext, etwa zu Psychosocial Needs of Former ISIS Child Soldiers in Northern Iraq, The Afghan Youth Project, What Helps the Helpers? Responding to Staff Care Needs in Fragile Contexts und Trajectories of Flight and Migration and possible Constructions of a Future of young Refugees in in Germany. Derzeit ist er zu Gast an der Universität Wien, wo ihn auch die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie erreichten. In seinen Notizen berichtet er über sein Erleben während der Pandemie, zieht Querverweise zu Erfahrungen aus seiner Forschungspraxis und reflektiert mit sozialpsychologischem Blick das Weltgeschehen aus der forscherischen Innensicht der sozialen Isolation. Seine Betrachtungen beginnen am 20. März.