Menschen ohne Kontakt werden krank oder aggressiv

Der an der IPU als Gastprofessor affiliierte Neuroimmunologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer reflektiert die psychologischen Folgen einer längeren Kontaktsperre im Rahmen der COVID-19-Pandemie: „Mehr als vier Wochen halten die meisten Menschen das psychisch nicht ohne Probleme durch.“

„Menschen sind ausweislich ihrer neurobiologischen ‚Konstruktionsmerkmale‘ auf sozialen Kontakt angewiesene Wesen. Zwischenmenschliche Nähe ist, wenn sie einem Menschen nicht aufgezwungen wird, eine der stärksten heilsamen Drogen, die wir kennen“, so Joachim Bauer in seinem nachfolgenden Beitrag, in dem er vor den Folgen einer zu langen Ausgeh- und Kontaktsperre warnt. Soziale Isolation führe zu erhöhter Morbidität und Mortalität. Politik, so Bauer, müsse daher mehr sein als Virologie und Epidemiologie, sie habe das gesamte Spektrum menschlicher Bedürfnisse im Auge zu behalten.

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An der vom SARS-CoV2 Virus ausgelösten Erkrankung COVID-19 gibt es nichts zu beschönigen. Zwar erleiden, wie bisher vorliegende Studien zeigen, über 80% der Infizierten nur leichte bis mittelschwere Symptome (wenn überhaupt, dann bestehen dieser aus Husten und Fieber). Da der Virus aber bei bis etwa 10% der Infizierten zu einer Lungenentzündung führt, handelt es sich um eine ernst zu nehmende Erkrankung. Bis zu fünf Prozent der Infizierten brauchen intensivmedizinische Behandlung, einiger bedürfen maschineller Beatmung. Die bisher gehandelten Prozentzahlen des Anteils schwer Erkrankter, ebenso wie die Angaben zum Anteil der an der Infektion Verstorbenen sind tatsächlich vermutlich deutlich niederer als zunächst angegeben. Der Grund dafür ist, dass sich die Prozentangaben derer, die schwer erkranken oder sterben, in allen bisher vorliegenden Studien nicht auf die Gesamtheit von SARS-CoV2- Infizierten in der Bevölkerung beziehen, sondern auf jene  immer noch recht kleine Gruppe von Menschen, die positiv getestet wurden (wobei die Testung teils deswegen erfolgte, weil die Betroffenen Beschwerden hatten, teils deswegen, weil sie Kontakt mit anderen bereits positiv Getesteten hatten).

Alle Experten gehen von einer nicht erfassten hohen – bis zu zehnfach über der Zahl der positiv Getesteten liegenden – Zahl unerkannt Infizierter in der Allgemeinbevölkerung aus, die nur geringe Symptome entwickeln. Aufgrund dieser „Dunkelziffer“ ist der tatsächliche prozentuale Anteil der Infizierten, die schwer erkranken oder der Infektion erliegen, als weit geringer anzunehmen als bisher vermutet. In Deutschland liegt der zu vermutende Anteil der Verstorbenen unter den SARS-CoV2-Infizierten nach neuesten Zahlen bei deutlich unter 0,5% (allerneueste Zahlen sprechen von 0,37%). Konsens der Fachleute ist, dass wir derzeit einer „Durchseuchung“ (etwas vornehmer ausgedrückt: Herdenimmunität) entgegengehen: An deren Ende werden bis zu 70% der Bevölkerung (das sind in unserem Land 50-60 Millionen Menschen) den Virus „durchgemacht“ und dann eine Immunität erworben haben. Diese 70% bieten dann ihrerseits den restlichen 30% der Bevölkerung, sozusagen als Puffer, einen gewissen Schutz.

Die bisherigen, der Reduktion von Kontakten zwischen den Menschen dienenden Maßnahmen sollen verhindern, dass sozusagen „alle auf einmal“ krank werden und unsere medizinischen Einrichtungen überfordern. Daher sind die Maßnahmen jetzt erst einmal richtig. Zugleich bedeutet die mit den Maßnahmen für viele Menschen einhergehende soziale Isolation für die Betroffenen aber eine schwere, die körperliche und die psychische Gesundheit betreffende Belastung. Für die Bewahrung der menschlichen Gesundheit sind nicht nur körperliche, sondern auch psychische, soziale und kulturelle Bedürfnisse zu beachten. Letztere werden in ihrer Bedeutung aber gerne unterschätzt oder gering gehandelt. Politik muss mehr sein als Virologie und Epidemiologie, Politik hat das gesamte Spektrum menschlicher Bedürfnisse im Auge zu behalten.

Menschen können ohne sozialen Kontakt auf Dauer nicht gesund bleiben

Menschen sind ausweislich ihrer neurobiologischen „Konstruktionsmerkmale“ auf sozialen Kontakt angewiesene Wesen. Zwischenmenschliche Nähe ist, wenn sie einem Menschen nicht aufgezwungen wird, eine der stärksten heilsamen Drogen, die wir kennen. Psychisches Erleben hat tiefgreifende, wissenschaftlich nachweisbare – und tatsächlich unendlich oft nachgewiesene – Auswirkungen auf die biologischen Abläufe des menschlichen Körpers. Das menschliche Gehirn – US-Kollegen prägten den Begriff des „social brain“ – konvertiert psychische und soziale Erfahrungen in Biologie. Mit am stärksten davon betroffen ist das menschliche Immunsystem, dessen biologische Abwehrkräfte erlahmen, wenn Menschen Einsamkeit oder soziale Ausgrenzung erleben. Dass die moderne Medizin, auf die wir uneingeschränkt stolz sein können und selbstverständlich nicht verzichten wollen, diesen Aspekt unterbewertet, ist bedauerlich, macht ihn aber nicht weniger bedeutsam. Menschen in sozialer Isolation unterliegen, wie dazu durchgeführte Studien zeigen, einem erhöhten Krankheits- (Morbiditäts-) und Sterbe- (Mortalitäts-) Risiko.

Gemeinschaft, soziale und kulturelle Verbundenheit sind unersetzliche, essentielle Lebensbedürfnisse. Die analoge, physische Gemeinschaft mit anderen Menschen lässt sich durch digitale Kommunikationsmedien für viele Menschen gar nicht, für die andere nur eingeschränkt und jedenfalls nicht auf Dauer ersetzen. Vielen alten Menschen oder Behinderten, aber auch vielen Kleinkindern stehen die digitalen Kommunikationsmittel gar nicht zur Verfügung. Aber auch diejenigen, die in der digitalen Welt zuhause sind, wissen, dass der physische Kontakt, der Blick in die Augen eines Anderen, der Austausch eines Lächelns, ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht oder eine Berührung letztlich nicht zu ersetzen sind. Sich anlasslos treffen zu können, miteinander zu sprechen, gemeinsam auszugehen oder Ausflüge machen oder gemeinsam Konzerte besuchen zu können sind menschliche Grundbedürfnisse. Weil sie genau das sind, haben wir die Grundrechte. Grundrechte sind kein juristischer Selbstzweck. Sie sekundieren menschliche Grundbedürfnisse.

Aus diesen Gründen muss Politik auch in der jetzigen Situation mehr sein als Virologie und Epidemiologie. Politik muss mehrere Zielgrößen im Auge haben. Die körperliche Gesundheit des Menschen ist eine, und sicher eine besonders wichtige Zielgröße – aber nicht die einzige.

Wichtig für künftige Notzeiten: Eine medizinische Reservekapazität

Die aktuelle Covid-19-Pandemie ist nicht die erste, die unser Land heimsucht, und sie wird nicht die letzte gewesen sein. Wären wir angemessen vorbereitet gewesen, wären drakonische Maßnahmen wie Ausgeh- und Kontaktsperre vermutlich nicht erforderlich gewesen. Warum hatten wir keine Masken gelagert, die sofort so dringend benötigt worden wären, um Erkrankte, Ärzte, Pflegekräfte, Küchenpersonal, Service- und Verkaufspersonal, Lehrkräfte und in öffentlichen Verkehrsmitteln und Flugzeugen Reisende damit auszustatten? Eine der Lehren für die Zukunft muss sein, dass wir Schutzausrüstungen nicht erst dann auf dem globalen Markt zu bestellen beginnen, wenn eine Epidemie bereits begonnen hat. Mehr noch: Wir müssen unsere medizinischen Einrichtungen in einen Zustand versetzen, dass sie im Falle einer künftigen Epidemie in kürzester Zeit baulich, apparativ und personell gerüstet sind.

Neue unbekannte Erreger sind auch in der Zukunft zu erwarten. Für ein Land wie das unsere sind nicht nur ausreichend Lagerbestände von Masken und Schutzkleidung, sondern auch eine Bettenreserve für Notzeiten einer Epidemie unverzichtbar. Diese Reserve kann in „Friedenszeiten“ ruhiggestellt werden. Zur Reserve zählt auch ein Personalpool von Menschen, die in Friedenszeiten hinreichend trainiert wurden und in Notzeiten kurzfristig aktiviert werden können. Ich denke an Ärztinnen und Ärzte in den ersten Jahren nach ihrer Zurruhesetzung oder an Medizinstudenten in höheren Semestern, und ich denke an Pflegekräfte. Nirgendwo verlassen – seit Jahren – derart viele Menschen ihren Beruf wie im Pflegedienst, hier gibt es eine Reserve, die man in „Friedenszeiten“ auf freiwilliger Basis rekrutieren und regelmäßig fortbilden könnte. Attraktiv wäre dies vor allem dann, wenn man ihren Einsatz dann, wenn sie gebraucht werden, auch gut bezahlt. Eine medizinische Reserve vorzuhalten, wäre eine weit billigere Angelegenheit als das, was wir jetzt zur Stützung der Wirtschaft und zur Abwendung eines Totalkollaps der Gesellschaft ausgeben müssen. Vor allem würden uns angemessene Vorsorgemaßnahmen ersparen, schwerwiegende, langanhaltende und unzumutbare Eingriffe in Grundrechte gegen den Verlust von Menschenleben abwägen zu müssen.

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer lebt und arbeitet in Berlin, wo er an der IPU eine Gastprofessur innehat. Bauer ist Professor für Psychoneuroimmunologe, Facharzt für Innere Medizin und für Psychiatrie und in beiden Fächern auch habilitiert.  Bauer forschte am Mount Sinai Medical Center in NYC über Immunbotenstoffe und war lange Jahre am Uniklinikum Freiburg tätig. Er ist Autor viel beachteter Sachbücher, darunter mehrere Bestseller („Das Gedächtnis des Körpers“; „Warum ich fühle, was Du fühlst“; „Prinzip Menschlichkeit“; „Schmerzgrenze“; „Selbststeuerung“; zuletzt erschien 2019 „Wie wir werden, wer wir sind“). Prof. Bauer hat sich in der Charité auf einer Liste von einsatzbereiten, für den Notfall einer Personalknappheit verfügbaren Kollegen eingetragen. www.psychotherapie-prof-bauer.de.

Joachim Bauer in der Corona-Sprechstunde auf ARD-alpha.