Krieg ist in Deutschland zum seit langem unvorstellbaren Zustand geworden. Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine rückt dieser Zustand in eine nicht mehr gekannte Nähe. Menschen fliehen vor dem Krieg aus der Ukraine. Bis September 2022 wurden von den über sieben Millionen in ganz Europa registrierten Flüchtlingen etwa eine Million in Deutschland erfasst. Und Deutschland scheint gut vorbereitet zu sein: Hilfsangebote stehen bereit, Unterkünfte werden angeboten sowie Hilfsgüter, wie Kleidung, Hilfe bei der Wohnungssuche oder: Bildung. Das bedeutet für viele vor allem Deutschkurse, die teilweise sogar kostenlos sind. Aber die Möglichkeiten gehen über diesen Bereich hinaus.

Ende 2015 wurde an der IPU das Projekt StuFen aus der Erfahrung mit den vielen Geflüchteten aus Syrien gegründet: „Studierende helfen Flüchtlingen“. Das Programm wird seitdem vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert und vermittelt in einem umfassenden Sinne Bildungsangebote, die ein Menschenrecht darstellen. Die Unterstützungsangebote sind universitätsübergreifend organisiert, die studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vermitteln Studienplätze und Sprachmentoring, helfen bei der Studienbewerbung, beim Erstellen von Unterlagen und Behördengängen. Außerdem organisiert StuFen die Begegnung geflüchteter Menschen untereinander und mit anderen Studierenden in Berlin, um langfristiges ein soziales Netzwerk aufzubauen. Denn es geht auch um gegenseitige Unterstützung, um Empowerment.

„Die Geflüchteten sind mit einem Haufen Bürokratie konfrontiert, die wir als in Deutschland aufgewachsene Menschen langsam lernen zu verstehen“, erklärt Alexandra Jacobson. Sie studiert an der IPU, wie auch Dajana Vukajlovic. Beide kamen zum Projekt StuFen als zu Beginn des Kriegs in der Ukraine die Mittel aufgestockt wurden, um mit der hohen Zahl der in Deutschland ankommenden Geflüchteten schritthalten zu können. „Die Hürden der Bürokratie sind sehr hoch, wenn man bedenkt, dass die Geflüchteten kein Deutsch sprechen“, betont Alexandra.

Alexandra und Dajana sprechen Russisch und können so die Ukrainerinnen und Ukrainer besonders gut unterstützen. Das Russische ist allerdings ein Kompromiss, da die Sprache in der Ukraine weit verbreitet ist, viele beherrschen sie, obwohl sie nicht Landessprache ist. So kennen die beiden Frauen die Schwierigkeiten, die in einer Fluchtsituation auftreten. „Die meisten möchten etwas Konkretes tun“, erklärt Dajana. „Die Situation, viel Zeit zur Verfügung zu haben, aber nichts machen zu können, bedeutet oft Stress.“

So alltäglich die Begriffe Flucht, Flüchtlinge, Fliehen geworden sein mögen, sind sie doch Ausdruck eines globalisierten Zustands, der ungeordnet, ja, krisenhaft ist. Wer in dieser Situation Klientin oder Klient bei StuFen wird, hat ganz unterschiedliche Bedürfnisse. In jedem Fall hilft StuFen den Neuankömmlingen Fuß zu fassen, weiterzumachen, neu zu starten. So kamen auch Anastasija, Sofia und Olga nach ihrer Flucht aus Kiew zum Projekt StuFen.

Das eigene Land, die Heimat von einem auf den anderen Tag verlassen zu müssen, ist für die allermeisten Menschen kaum vorstellbar. Doch dann passiert es einfach. „Mein Vater sagte zu mir: Ihr müsst das Land verlassen“, erzählt Anastasija. Er selbst konnte mit Frau und Tochter nicht mitkommen, alle wehrfähigen Männer müssen sich zum Kriegsdienst bereithalten. Ähnlich ging es Sofia, deren Vater die Tickets organisiert hatte, damit seine Familie die Ukraine verlassen konnte. Es war nicht klar, wo es hingehen würde, erzählt Sofia, sie nutzten lediglich die Möglichkeit, die sich bot.

Das ist der häufigste Fall: Die Mütter verlassen mit den Kindern das Land. Etwa 65 Prozent der ukrainischen Kriegsflüchtlinge sind Frauen, über ein Drittel Kinder und Jugendliche, von denen die meisten zehn Jahre oder jünger sind. Sofia hat mehrere jüngere Geschwister, die mit ihr und ihrer Mutter geflohen sind. Sie ist 25 Jahre alt, stammt ursprünglich von der Krim, hat aber die meiste Zeit ihres Lebens in Kiew verbracht. In der Ukraine hatte sie ihre psychiatrische Ausbildung gerade abgeschlossen. „Aber hier zählt das nicht.“ Das sagt sie ohne Frust, wie eine simple Tatsache, die es festzustellen gilt. Die Systeme in Deutschland und der Ukraine unterscheiden sich voneinander. Um den eigenen Weg verfolgen zu können, muss man sich an die neue Situation anpassen. Das heißt für viele, dass Leistungen teilweise oder vollständig neu erbracht werden müssen.

Tatsächlich hatte Sofia schon in der Ukraine vor, sich in Richtung Psychoanalyse weiterzuentwickeln. Dann kam die Flucht, aber auch der Kontakt zum Projekt StuFen an der IPU. Sie hofft jetzt auf eine Möglichkeit, einen Abschluss nachzuholen, der sie berechtigt in Deutschland zu praktizieren. Am liebsten in Berlin: „Ich habe viele Bekannte hier, habe die Stadt kennengelernt, das System, alles. Es wäre toll, in Berlin bleiben zu können.“

Olga ist mit ihrer Mutter bei einer Tante untergekommen, die seit einigen Jahren in Dessau lebt. Sie ist 33 Jahre alt, hat Psychologie studiert, die letzten Jahre aber künstlerisch gearbeitet. Jetzt möchte sie zurück in die Psychologie, einen „restart“ machen, wie sie sagt. Doch sie ist unsicher, welcher Spezialisierung sie nachgehen soll und sucht nach Orientierung. „Um ehrlich zu sein, kann ich die Zukunft gerade nicht planen“, sagt sie. In der Aussage steckt das Bedrückende und zugleich Hoffnungsvolle der erzwungenen Situation: Die Unsicherheit existiert bei der Flucht von Tag zu Tag, sie ist umfassend und lässt sich ohne die konkrete Erfahrung nur schwer vor Augen führen. Immerhin, der Kontakt zum Projekt StuFen habe ihr bereits geholfen, versichert sie. Ein Freund habe mal zu ihr gesagt, sie hätte europäische Werte: „Jetzt, wo ich plötzlich hier bin, möchte ich das gerne ausprobieren und mehr erfahren.“

Anastasija möchte einfach nur zur Universität gehen und studieren. Das erklärt sie in einem Tonfall, der den merkwürdigen Widerspruch der unsicheren Fluchtsituation und der internationalen Möglichkeiten eines Hochschulstudiums zum Ausdruck bringt. Sie ist 20 Jahre alt und war in Warschau als Studentin eingeschrieben, als sie mit ihrer Mutter Kiew verlassen musste. Auch sie steht vor der Situation, dass ihre bisherigen Leistungen nicht anerkannt werden, in ihrem Fall der Schulabschluss. Nun muss sie gezwungenermaßen den zweiten Bildungsweg einschlagen, um dann zurück an die Universität zu können.

Immerhin, die Ankunft in Deutschland war für die drei jungen Frauen erfreulich. „Ich kam in Deutschland an und hatte nur einen mittelgroßen Rucksack dabei. Jetzt hätte ich alles, um abzureisen“, erzählt Olga. Auch Sofia und Anastasija haben positive Erfahrung bei ihrer Ankunft im fremden Deutschland gemacht. Sie sei überrascht gewesen, sagt Anastasija – und Sofia betont, sie halte sich für privilegiert angesichts der Hilfsangebote, die sie nutzen konnte.

Die Situation vieler Geflüchteter ist also widersprüchlich. Die Möglichkeiten weiterzumachen, den Faden der eigenen Karriere wieder aufzugreifen, sind begrenzt, die Systeme der Ukraine und Deutschlands oft inkompatibel. Gleichzeitig herrscht eine so weit globalisierte Situation, dass die internationale Vernetzung der Bildungsmöglichkeiten erstaunlich wenig ineinandergreift. Im Ausland zu studieren ist schon länger üblich, in manchen Studienfächern regelrecht gefordert. Die gute Nachricht ist, dass Menschen auch in der erzwungenen Fluchtsituation Möglichkeiten geboten bekommen, alternative Lebensorte zu finden. Sofia, Anastasija und Olga waren gezwungen, ihren Weg aus der katastrophalen Situation in der Ukraine zu finden. Es ist beeindruckend, wie sie dieses Schicksal bewältigen konnten. Und es kann allen Betroffenen Mut machen, sich Unterstützung und Hilfe zu suchen, um in Zeiten derart ungewisser Zukunft den eigenen Weg zu verfolgen.

Benötigen Sie Unterstützung oder haben Sie Freunde, Bekannte, Familienmitglieder, die Hilfe in ihrer neuen Bildungssituation in Deutschland benötigen? Dann finden Sie hier weitere Informationen zum Projekt StuFen und die Möglichkeit Kontakt aufzunehmen.

_{1. Dezember 2022}