Zur Renarrativierung verlorener Lebensgeschichten von Überlebenden der Shoah, die als chronisch psychotisch diagnostiziert und behandelt wurden
Prof. Dr. Andreas Hamburger, IPU Berlin
Pascal Heberlein M.A., cand. phil. Uni Kassel
Prof. Dori Laub MD, Yale School of Medicine (Teilstudie zur Phase II der Videotestimony Study of Chronically Hospitalized Holocaust Survivors in Psychiatric Institutions in Israel (VCHSI), Yale University u. a.)
Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Sigmund-Freud-Institut Frankfurt/M.
seit 2007
Die Studie wurde gefördert durch einen Zuschuss des IPA Research Advisory Board.
Design und Zwischenergebnisse wurden auf Konferenzen vorgestellt:
Hamburger 2010: Sandler-Konferenz Frankfurt/M.
Hamburger 2010: 11. ISPS-US Meeting, Austen Riggs, Stockbridge, MA
Hamburger, Heberlein 2011: Forschungskonferenz Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt/M.
Hamburger 2012: Symposium des C.G. Jung-Instituts München
Hamburger 2012: Preparatory Conference, Research Network Trauma, Trust, and Memory, Belgrade.
PD Dr. phil. Tamara Fischmann, Dr. phil. Hella Goldfein, Dr. phil. Kurt Grünberg, Dr. med. Salek Kutschinski, Dr. med. Friedrich Markert, Dr. phil. Lillian Otscheret-Tschebiner, Dr. phil. Naomi Silberner-Becker
Sabine Nüsser und Sarah Katharine Schmidt (2010), Pascal Heberlein (2010)
Das internationale Videotestimony-Projekt der Yale University hat Zeugnisse von Menschen bewahrt, die als unerkannte Opfer der Shoah Jahrzehnte in psychiatrischen Kliniken in Israel untergebracht und als Psychotiker behandelt wurden. Die Untersuchung der Bazak Commission (1999) ergab, dass etwa 725 (15 % ) der ca. 5000 chronisch psychotischen Patienten, die in israelischen Psychiatrien stationär behandelt wurden, Überlebende der Shoah waren, ohne dass dies als spezifischer Aspekt ihrer Erkrankung realisiert worden wäre (Cahn 1995, Terno u.a. 1998, Davidovitch und Zalashik 2007). In der ersten Phase der Videotestimony Study der Universität Yale führten Dori Laub u.a. mit 26 dieser Patienten zum Teil mehrstündige Interviews, die als Videozeugnisse aufgezeichnet und transkribiert wurden. Die meisten von ihnen sind heute im Fortunoff Video Archive archiviert und können zu Forschungszwecken eingesehen werden.
Ausgewählte Videozeugnisse aus diesem Sample werden an der IPU mit dem Verfahren der Szenisch-Narrativen Mikroanalyse näher untersucht. Mikroanalysen der Video-Zeugnisse machen unter der fassbaren manifesten Oberfläche des Zeugnisses den szenische Subtexte sichtbar, der die innerpsychische Verarbeitung abbildet – nicht nur im Interviewten selbst, der fragmentarisch von seinem zerstörten Leben berichtet, sondern auch im Zuhörer und Zuschauer seiner Zeugnisses, der diesen Bericht zu einem Ganzen verarbeitet. Dieser inpersubjektive Ansatz spiegelt den Stand der psychoanalytischen Traumatheorie (Bohleber 2000, 2007, Kirshner 1994, 2004, Hirsch 2004).
Persönliche Zeugenschaft ist kein Datum, sondern ein Schritt; sie führt nicht nur zu Erkenntnis, sondern sie löst weitere Schritte aus. Im besten Fall führt sie dazu, dass Menschen erkennen, wie sie ihre gesellschaftliche Entwicklung durch Unbewusstheit erkaufen, durch den Ausschluss der Geschichte und ihrer Zeugen aus dem eigenen Gegenwartsbewusstsein (Hamburger 2013b). Diese Erkenntnis kann emanzipatorisch wirken, denn sie nimmt Einfluss auf das Handeln in der Gegenwart: Verleugnung, die benannt werden kann, ist eo ipso außer Kraft gesetzt. Zwar sollte man sich nicht der Hoffnung hingeben, dass das Benennen alleine schon nachhaltige Änderungen bewirkt, weder bei einzelnen Menschen noch in der Gesellschaft. Gesellschaftliche und private Generierung von Unbewusstheit wird trotz aller Aufklärung und Selbstaufklärung immer neue Wege suchen. Doch bleibt die leise Stimme der Erinnerung eine unüberhörbare, jeweils neu geltend zu machende Mahnung.
Ausgangspunkt und Material der vorliegenden Studie sind 22 Videointerviews, die im Rahmen der von Dori Laub geleiteten Phase I der VCHSI in Israel mit als chronisch psychotisch diagnostizierten Überlebenden der Shoah aufgenommen wurden. Die Interviews wurden (mit einer Ausnahme) in hebräischer Sprache geführt und transkribiert, es liegt eine englische Übersetzung der Transkripte vor. Für die Wahl der Methode, mit der wir uns diesen Zeugnissen annähern wollen, ist es bedeutsam, dass das uns vorliegende Material aus fertigen Dokumenten besteht, auf deren Entstehung und Auswahl wir keinen Einfluss nehmen. Die Videozeugnisse sind selbst in ihrer Einzigartigkeit historische Dokumente. Sie erfassen den Augenblick einer Suchbewegung nach einer Geschichte, deren Koordinaten verschüttet sind. Die Suchbewegung selbst, das Zeitzeugeninterview, das der Psychoanalytiker Dori Laub geführt hat, hat zwar eminent psychoanalytische Qualität. Sie können (mit bestimmten, deutlich zu machenden Einschränkungen) als psychoanalytische Situationen aufgefasst werden, in denen ein bislang exkommunizierter Sinn, ein „Unbewusstes“ des Patienten zur Sprache finden darf (vgl. Laub 2005). Dieses Zeitzeugeninterview hat auch erhebliche Wirkungen bei den Interviewten hinterlassen: Wie Strous et.al. 2005 nachgewiesen haben, erfuhren sie eine hochsignifikante Verbesserung ihrer psychopathologischen Symptomatik. Für die vorliegende Studie ist jedoch nicht der Patient selbst in einer online-Situation, sondern das fertige Video dieser Situation Gegenstand der Untersuchung. Dadurch verändert sich die Forschungsrelation im Gegensatz zur psychoanalytischen Untersuchung oder zum Interview. Das Gegenüber ist nun nicht mehr der Patient, sondern das (unveränderliche) Video.
Das psychoanalytische Erkenntnisinteresse bei der Analyse von Videozeugnissen und anderen dokumentarisch fixierten Materialien, z.B. auch Kunstwerken, richtet sich nicht wie im klinischen Setting auf die Veränderung des Patienten, sondern auf die die introspektive Wahrnehmung der „Veränderung“ des Interpreten (Hamburger 1998a, 2003a, 2013a, Hamburger und Leube 2014). Die Reflexion dieser Selbstveränderung ist der Kern der kulturanalytischen Forschungsmethode (vgl. Lorenzer 1986), auf die wir uns hier neben der historisch-biographischen Rekonstruktion und der Narrationsforschung stützen. Es ist bei dem hier vorliegenden Material von großer Bedeutung, seine doppelte Bedingtheit genau zu sehen: Zum einen sind die Zeugen Opfer der Shoah. Zum anderen begegnen sie uns aber auch als Kranke, als Menschen, deren Wahrnehmung und Erinnerung der Realität mehr oder minder verzerrt erscheint. Sie darauf zu reduzieren, macht sie erneut zu Opfern; sie lediglich beim Wort zu nehmen, verkennt die Schwere ihrer Beschädigung.
Die doppelte Bedingtheit stellt die Untersuchung vor die doppelte Aufgabe:
Zum einen müssen die Aussagen der Zeugen mit klinisch geschultem Blick gelesen werden, zum anderen muss das Bewusstsein erhalten bleiben, dass die als psychotisch imponierende Symptomatik Teil eines gesellschaftlichen Verleugnungsprozesses ist und dass wir selbst als Forscherinnen und Forscher Teil dieser Gesellschaft sind. Dass sich diese eigene Verstrickung in die Geschichte auch in Diagnose- und Forschungsprozessen stets neu inszenieren kann, zeigt gerade die vorliegende Patientengruppe. Beide Aufgaben erfüllt die Forschung am besten durch einen Prozess der reflexiven, transparenten Aufdeckung der Wirkung auf den Leser. Diese in der Psychoanalyse als Gegenübertragungsanalyse eingeführte Erkenntnis- und Validierungshaltung prägt die Methode des Projekts.
Die Reanalyse historischer Dokumente wie im vorliegende Projekt erfordert nach Devereux (1954) die Reflexion der Forschungsszene, um der Tendenz einer arbiträren oder remythologisierenden Interpretation entgegenzuwirken. Die Rolle der psychoanalytischen Methode für die Auswertung von kulturellen Artefakten oder Forschungsdaten ist in zahlreichen Arbeiten entwickelt worden (vgl. Leuzinger-Bohleber, 1995, Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr und Beutel, 2002, Leuzinger-Bohleber und Fischmann, 2006
Die Methode der szenisch-narrativen Mikroanalyse von Videozeugnissen (Hamburger 2010) beruht auf einer Verbindung von naturalistischen Beobachtungsmethoden der qualitativen Säuglingsforschung und der Expertenevaluation, wie sie etwa in der Katamnesestudie von Leuzinger-Bohleber u.a. Anwendung fand, sowie texthermeneutischer Verfahren. Die Methode wurde zunächst in einer Pilotstudie an einem Einzelinterview erprobt (Hamburger 2010, Nüsser und Schmidt 2010, Heberlein 2010). Das zu untersuchende Videozeugnis wird von psychoanalytisch ausgebildeten Experten unabhängig voneinander segmentweise beschrieben und hinsichtlich der vorherrschen Übertragungs-Gegenübertragungsszene in der Interviewsituation evaluiert. Das zu Verfügung stehende Material besteht aus je einem Video und einem Transkript. Die Ergebnisse der Einzelevaluationen werden dokumentiert in Form schriftlicher Randkommentare zum Transkript sowie einer zusammenfassenden Einschätzung für jedes Segment.
Nach jedem Evaluationsdurchgang werden die von den Ratern mit hoher Übereinstimmung markierten Segmente ausgewählt und in einer gemeinsamen Sitzung (Konsenssitzung) diskutiert. Am Ende jeder Sitzung wird von den Moderatoren ein Formulierungsvorschlag für das diskutierte Interview formuliert, der Ratergruppe vorgelegt und ggf. modifiziert. Die Konsenssitzungen werden auf Tonband mitgeschnitten und transkribiert. Sie gehen in die abschließende Interpretation als weiteres Material mit ein. Im Ergebnis werden alle dokumentierten Stufen des Evaluationsprozesses zusammengeführt und der Evaluations- und Konsentierungsprozess transparent zusammengefasst. An der vorliegenden Studie waren neben dem Projekteiter (AH) sieben Psychoanalytiker in verschiedenen Ratinggrupen tätig. Zwei Magistrandinnen und ein Doktorand transkribierten die Konsentierungssitzungen, ordneten die Aussagen den Textpassagen im Videozeugnis zu und arbeiteten Widersprüche und Übereinstimmungen heraus.
Unabhängig von der Segmentierung, Einschätzung und Konsentierung durch psychoanalytische Rater werden Redestruktur und Interaktion der Gesprächspartner im Rahmen einer Grounded Theory (Strauss & Corbin, 1996) anhand manifester Textsignale untersucht. Merkmale des fragmentierten autobiographischen Narrativs und seiner Entfaltung in den interaktiven Redezügen von Interviewer und Interviewtem werden identifiziert, materialgetriebene Kodes entwickelt, vernetzt und die generierten Theorien anschließend auf übergreifende Strukturen hin verdichtet. In einem weiteren Schritt werden die Befunde mit den unabhängig gewonnenen psychoanalytischen Ratings verglichen und diskutiert.
Zwischenergebnisse zeigen, dass in der Grounded Theory übergreifende Strukturierungstypen identifiziert werden können: Alle befragten Überlebenden haben äußerst positive Erinnerungen an Themen, die eng mit Beziehungen zu konkreten Menschen oder aber, wenn diese fehlten, mit einer Arbeit verbunden waren (positive Themen). Negative, fehlende oder verleugnende Erinnerungen treten immer dann auf, wenn die entsprechenden Themen mit Alleinsein bzw. Einsamkeit verbunden waren (negative Themen). Es zeigen sich unterschiedliche Motive abhängig von der Individualität der traumatischen Erlebnisse und Beziehungsstrukturen. Diesen Strukturierungstypen entsprechen im psychoanalytischen Rating häufig übereinstimmend identifizierten Schutz- bzw. Abwehrprozesse im Interview, während den in der Grounded Theory konstatierten negativen Themen im psychoanalytischen Rating Momente der Verlassenheit der Überlebenden zugeordnet werden können. Diese zunächst auf einer hohen Abstraktionsebene identifizierten formalen Entsprechungen bedürfen noch einer weitergehenden Analyse.