Im Jahre 2018 seine Jugend in Afghanistan zu verbringen – das ist in westlicher Vorstellung vor allem ein Leben voller Entbehrungen. In ihrer Bachelorarbeit konnte die IPU-Studierende Ulrike Auge allerdings zeigen: Auch für Jugendliche und junge Erwachsene, die mit Kriegserfahrungen aufgewachsen sind, gibt es Handlungsmöglichkeiten. Für ihre Untersuchung zu „adoleszenten Möglichkeitsräumen bei Jugendlichen in Afghanistan“ wird sie auf der 31. Tagung des Forums Friedenspsychologie mit einer ehrenvollen Erwähnung (Honorable Mention) ausgezeichnet.
Das Besondere an Auges Arbeit ist der kultursensible Blick auf die afghanische Gesellschaft, der den sogenannten western bias überwinden soll. Demzufolge ist die westliche Perspektive auf Heranwachsende in Gesellschaften mit zivilen und militärischen Konflikten vor allem an Defiziten orientiert – also dem, was nicht funktioniert, was die Jugendlichen nicht können oder haben werden. Dem gegenüber zeigt Ulrike Auge, was für junge Erwachsene im Nahen Osten trotzdem möglich ist, welche Strategien sie entwickeln, um ihre Lebenssituation zu meistern und was ihnen hilft die Hoffnung zu bewahren.
Dafür nutzt sie das Konzept des „adoleszenten Möglichkeitsraums“ der Soziologin Vera King. King zufolge gilt es, Heranwachsenden sowohl ge-nügend Freiheit für den Selbstfindungsprozess zu bieten als auch ein erwachsenes Gegenüber zu sein, das Vertrauen in die Welt vermittelt. So stünden Adoleszente immer zwischen den Generationen: Einerseits sind sie den Traditionen und Forderungen ihrer Eltern verbunden, andererseits entwickeln sie einen neuen, ihren eigenen Weg.
Ulrike Auge zeigte in ihrer Bachelorarbeit, dass Jugendliche in Afghanistan sich dabei in einem Spannungsfeld bewegen. Dieses verläuft „zwischen der Bewahrung traditioneller Werte und tradierten Biografievorstellungen und dem gesellschaftlichen Auftrag, das Land in eine neue Zukunft zu führen, die sich an westlichen Werten und Entwicklungsmodellen orientiert.“ Wie das aussehen kann, versucht sie mit einem kurzen Einblick in eins ihrer Beispiele zu zeigen. Eine junge Frau aus Afghanistan konnte aufgrund des gesellschaftlichen Drucks nicht weiter zur Schule gehen. Sie fühlte sich in ihrer Situation an die traditionellen Ansichten ihrer Dorfgemeinschaft gebunden.
Anstatt jedoch in dieser Position zu verharren, suchte sie sich eine Möglichkeit ehrenamtlich zu arbeiten. „Hier findet eine Transformierung statt“, erklärt Ulrike Auge, „die Jugendlichen suchen und ergreifen andere Möglichkeiten und gewinnen dadurch eine neue Art Handlungsmacht. So gelingt es ihnen, ihre ambivalente Lebensrealität auszubalancieren.“ Wolle man diese Form der Handlungsmacht verstehen, bedürfe es eines kultursensiblen Zugangs: „Ohne eine solche Interpretation der Erzählungen wären diese Formen von Handlungsmöglichkeiten nicht sichtbar.“
Die Bachelorarbeit von Ulrike Auge entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Wie der Krieg im Kopf den Blick auf Frieden trübt“ unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Phil Langer von der IPU Berlin. Das Projekt wird gefördert von der Deutschen Stiftung Friedensforschung und untersucht anhand von narrativen Interviews die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen und alltäglicher Gewalt auf Identität, Gesellschaftsbilder und Agency von Jugendlichen in Afghanistan.
Die Auszeichnung erhält Ulrike Auge im Rahmen der Verleihung des Gert-Sommer-Preises für Friedenspsychologie, der seit 2007 akademische Arbeiten auszeichnet, die sich um friedenspsychologische Erkenntnisse verdient gemacht haben. In einem Vortrag auf der Tagung vom 8. bis 10. Juni 2018 in Heidelberg mit dem Thema „Frieden, Macht, Freiheit“ wird Auge ihre Forschungsergebnisse vorstellen.
Programm der Tagung