Wie belastend ist die COVID-19 Pandemie für die menschliche Psyche? Zu selten geht es im Rahmen der Coronakrise um psychische Probleme, die durch die aktuellen Einschränkungen auftreten können. Ein Onlinekurs bietet Unterstützung.
Keine öffentlichen Veranstaltungen mehr, zuhause bleiben, möglichst wenige soziale Kontakte – die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 betrifft alle Menschen auf der ganzen Welt. Eine Frage, die in der Berichterstattung der Medien nicht so häufig gestellt wird, ist die nach den psychischen Problemen, die durch die Einschränkungen auftreten können. IPU-Professor Gunther Meinlschmidt hat sich gemeinsam mit dem Berliner Unternehmen Selfapy dieser Problemstellung gewidmet und einen Onlinekurs erarbeitet, der in dieser besonderen Lage Unterstützung für möglichst viele Menschen bieten soll. Das Programm ist kostenlos und beschäftigt sich unter anderem mit Stressbewältigung, dem Aufrechterhalten von Routinen, reduzierten sozialen Kontakten, Home-Office, Home-Schooling und dem Umgang mit negativen Gefühlen. Die wissenschaftliche Begleitung stellt sich vor allem der Herausforderung, dass Menschen in so unterschiedlicher Form und Ausprägung von den Maßnahmen im Umgang mit der COVID-19-Pandemie betroffen sind. Im Interview erklärt Meinlschmidt, worum es im Onlinekurs geht, für wen er infrage kommt und welche Ziele das Programm verfolgt.
Professor Meinlschmidt, wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Selfapy für einen Onlinekurs bei Stress und psychischen Belastungen in Zeiten des Coronavirus?
Meinlschmidt: Vor gut drei Wochen wurde deutlich, dass es einen enormen Bedarf an Unterstützung gibt bei der Bewältigung von Stress und psychischen Belastungen, die die Menschen im Rahmen der COVID-19-Pandemie erfahren. Damit meine ich Stress, unabhängig davon, ob jemand an COVID-19 erkrankt ist oder nicht. Zugleich stellten wir fest, dass es zwar im Moment zahlreiche aus dem Boden schießende Empfehlungen zum Umgang mit den neuen psychischen Belastungen gab, auch von großen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation. Wir wissen aber aus anderen Situationen, dass Empfehlungen allein meist nicht ausreichen, um Menschen, die wirklich belastet sind, nachhaltig zu unterstützen. Für viele Betroffene ist es eine Herausforderung, diese allgemeinen Empfehlungen konkret umzusetzen – und sie verpuffen. Farina Schurzfeld, Kati Bermbach mit ihrem Team von Selfapy und wir haben also beschlossen, zusammen an einem Programm zu arbeiten, das den Leuten bei der Bewältigung von Stress und psychischer Belastung durch die COVID-19-Pandemie hilft.
Über welche Art Belastungen sprechen wir hauptsächlich? Wie würden Sie den Bedarf einschätzen?
Meinlschmidt: Die COVID-19-Pandemie und die dadurch entstehenden Belastungen sind in gewisser Weise einzigartig. Nicht nur als einzigartiges Ereignis, sondern auch im Vergleich zu anderen großen belastenden Ereignissen der letzten 50 Jahre, wie Naturkatastrophen, Kriege oder Hungersnöte. All diese Ereignisse waren räumlich begrenzt und betrafen verschiedene Regionen in unterschiedlichem Ausmaß. Mit der aktuellen Pandemie haben wir ein Ereignis, das im Grunde alle Menschen auf die eine oder andere Weise betrifft, ob sozial oder beruflich. Gleichzeitig ist das Besondere, dass die Arten der psychischen Belastung höchst heterogen sind. Beispielsweise geraten manche Menschen in finanzielle Schwierigkeiten und machen sich Sorgen, dass ihr Betrieb schließen muss oder ihre berufliche Existenz in Gefahr ist. Menschen, die ohnehin unter Krankheitsängsten leiden, reagieren womöglich empfindlicher auf das Risiko sich zu infizieren. Andere sind sehr von ihren Mitmenschen abhängig, die ihnen sonst Halt geben, die sie aber jetzt nicht treffen können. Manche Eltern müssen sich gerade gleichzeitig um ihr Home-Office, die Kinder und deren Home-Schooling kümmern. Und dann gibt es natürlich auch Menschen, die die aktuelle Pandemie zwar grundsätzlich betroffen macht, die aber die momentane Zeit persönlich sogar positiv erleben – zum Beispiel als wohltuende Zeit der Entschleunigung und der Rückbesinnung auf das Wesentliche im Leben.
Wie reagieren sie im Coronakurs von Selfapy darauf, dass die Problemlage so heterogen ist?
Meinlschmidt: Wir haben den Ansatz verfolgt, ein relativ breites Angebot zu entwickeln und den Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Es besteht aus zwölf Modulen, in die allgemeines Wissen um Bewältigungsstrategien und Ressourcen im Kontext von Katastrophen und psychischen Belastungen einflossen, verbunden mit spezifisch auf die aktuelle Situation der COVID-19-Pandemie zugeschnittenen Strategien. Ergänzt haben wir dies um Angebote, mit denen wir auf Bedürfnisse reagieren, die wir in Gesprächen mit Betroffenen verschiedener Altersgruppen identifiziert haben. Wer teilnimmt, bekommt alle Module zur Verfügung und kann sich aussuchen, welche für sie oder ihn wichtig sind. Innerhalb der Module gibt es verschiedene Angebote. Im Bereich „Bewegung und Sport“ etwa wird geschaut: Was haben die Leute für Interessen? Wo fehlt ihnen Bewegung? Der eine hat vielleicht Fitnessgeräte zuhause, die er benutzen möchte, der andere geht ohnehin gerne Joggen und kann dies weiter tun. Wer jedoch sonst zwei Mal die Woche zum Fußballtraining gegangen ist, muss sich umorientieren, um weiter Sport machen zu können. Eine einheitliche Lösung gibt es nicht. Dadurch sind viele Tipps begrenzt, die momentan kursieren: Sie sind durchaus wohlgemeint und können entlasten, lassen die Betroffenen aber mit der Umsetzung der Empfehlungen im Alltag weitgehend allein. Wir wollen Betroffene dabei unterstützen zu verstehen, was diese Empfehlungen für sie ganz konkret bedeuten können und – ganz wichtig – sie dabei begleiten, diese Empfehlungen in ihrem Alltag umzusetzen. Durch die wissenschaftliche Begleitung erhoffen wir uns bald stichhaltige Daten, mit denen ein genaueres, empirisches Bild der Belastungen und der Unterstützungsangebote möglich wird. Dies bildet die Grundlage, um Angebote besser an die Probleme der Einzelnen anpassen zu können.
Das heißt, der Onlinekurs bietet vielen Menschen etwas. Gibt es Zielgruppen, für die er besonders geeignet ist?
Meinlschmidt: Grundsätzlich kann man ab 18 Jahren daran teilnehmen – die Sprache ist Deutsch. Man braucht im Grunde nur einen Computer oder ein Smartphone mit Internetzugang für den Zugriff. Das Programm wendet sich an Menschen, die sich belastet fühlen und etwas dafür tun wollen, sich psychisch besser zu fühlen und weniger gestresst zu sein in der aktuellen Situation. Das Programm ist kostenfrei. Es wird empfohlen, sich für die Inhalte einen Monat Zeit zu nehmen, wobei man sich vor allem damit beschäftigen sollte, was einem als persönlich wichtig erscheint. Die Inhalte stehen für ein Jahr zur Verfügung, sodass noch länger die Möglichkeit besteht darauf zurückzugreifen. Daher ist aber auch wichtig zu betonen, wann der Kurs allein nicht ausreicht: Wenn Sie massive Probleme haben, die dazu führen, dass Sie an mehreren Tagen am Stück Ihren Alltag nicht mehr geregelt bekommen, dann sollten Sie professionelle Hilfe im direkten Kontakt suchen. Deshalb sind für den Fall massiver Probleme im Programm Hinweise integriert, auch durch Angaben, an wen man sich im Notfall wenden kann [Rufnummern auch am Ende dieses Textes, Anm. d. Red.].
Verändert sich Stress und Belastung durch die COVID-19 Pandemie mit der Zeit?
Meinlschmidt: Als sich Ende Februar, Anfang März die möglichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf das Leben in Deutschland und Europa abzeichneten, gefolgt von den Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckung, ging es für viele vor allem darum, sich auf die neue Situation einzustellen. Damit waren Fragen verbunden, die Unsicherheiten und Belastungen betrafen, etwa bezüglich Home-Office, Kinder, Social Distancing, beruflicher Existenz, Ansteckungsgefahr und den zunehmenden Einschränkungen. Inzwischen sind wir in einer neuen Phase. Es beginnt sich so etwas wie ein neuer Alltag einzuspielen. Nun stehen andere Fragen im Vordergrund: Wie lange wird es gehen? Wie lange können wir das aus- und durchhalten? Es gibt außerdem ein zunehmendes Bewusstsein für die Frage, was die Pandemiesituation für langfristige „Nebenwirkungen“ mit sich bringt, etwa für Senior_innen, die in Altenheimen wohnen oder in Krankenhäusern liegen und nicht mehr besucht werden dürfen. Was macht es mit Kindern, die keinen Kontakt mehr zu Freund_innen haben und wenig andere Kinder sehen? Und eine gravierende Frage ist, wie es Menschen geht, die in Haushalten leben, die von Gewalt geprägt sind. Da gibt es erste erschreckende Hinweise. Ich glaube, dass all dies uns und die gesamte Gesellschaft vor eine Mammutaufgabe stellt – weit über das Ökonomische hinaus. Die Politik besinnt sich glücklicherweise zunehmend auf diese Themen, aber wir dürfen diese Seite der COVID-19 Pandemie akut und hinsichtlich ihrer langfristigen Folgen nicht unterschätzen, müssen sie besser verstehen und sollten deutlich mehr zum Schutz und zur Unterstützung der Betroffenen tun.
Die Selfapy GmbH bietet begleitete Onlinekurse zur Bewältigung psychischer Probleme an. Prof. Dr. Gunther Meinlschmidt ist Professor für Klinische Psychologie an der IPU Berlin. Er forscht zu Beschwerdebildern und Gesundheitsaspekten an der Schnittstelle von Psychologie und Medizin sowie neuen Technologien im Kontext psychischer Störungen, Psychotherapie und Gesundheitsförderung.
Weitere Informationen: https://www.selfapy.de/corona/.
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