Corona und die Scham

In Corona-Zeiten ändern sich viele alltägliche Abläufe, oft nur in Details. Reinhold Görling schreibt in seinem Gastbeitrag über ein solches vermeintliches Detail mit psychoanalytischem Blick: Das Schamgefühl und seine aktuelle Bedeutung.

Im Grunewald, durch den ich fast jeden Morgen ein paar Kilometer laufe, sieht man jetzt nicht mehr weit durch die Bäume. Grüne Blätter sind in den Wochen seit Beginn der Einschränkungen im öffentlichen Leben aus den Pflanzen gesprossen. So kreuzen die anderen Jogger, die mit mir den Wald aufsuchen, überraschender meinen Weg. Früher, vor einigen Wochen, habe ich meist „Guten Morgen“ gesagt, wenn mir jemand begegnete. Irgendetwas verband uns, die da zu dieser Tageszeit durch den Wald liefen. Aber seitdem wir darauf bedacht sind, den Abstand beim aneinander Vorbeilaufen möglichst groß zu halten, unterbleibt das Grüßen meist. Vielleicht sind wir nur zu sehr damit beschäftig, am Wegrand, den wir dabei betreten, nicht zu stolpern. Aber ich spüre einen anderen Konflikt in mir. Wie hält man Abstand, ohne den anderen zu beschämen? Wie hält man Abstand, ohne sich dafür zu schämen, dass man es unter diesen Umständen eigentlich schöner fände, hier alleine zu sein? Heute sagte eine Frau, die in die Gegenrichtung lief „Danke“, als ich zum Wegrand auswich. Es war zu spät, um einen Blick zu erwidern. Aber ich glaube, sie hatte mich auch gar nicht angeblickt, als wir aneinander vorbeiliefen. Und doch: Dieses „Danke“ war schön, es nahm mir viel von meiner Scham und gab mir das Gefühl, dass ich mit ihr nicht allein bin.

Scham ist ein sehr komplexes soziales Gefühl und auch dann nicht leicht zu verstehen, wenn sie einen selbst überkommt. Ja, es gibt auch schamlose Jogger, Menschen, die kaum ausweichen, Männer auf Fahrrädern, die nebeneinander fahren, Frauen mit Hunden, die so in ihr Gespräch vertieft sind, dass sie Corona zu vergessen scheinen und sich nicht darum kümmern, wenn Ihnen jemand entgegenkommt. Selten aber sind das Menschen, die alleine unterwegs sind. Es ist ja etwas Merkwürdiges an der Schamlosigkeit: Sie muss performt werden. Sie hat immer etwas von Agieren. Verdeckt oder verleugnet sie nicht immer eine erlittene Ohnmacht? Ist das die Übertragung, die mir jemand aufzwingt, wenn ich mich für ihn schäme? Scham ist ein Gefühl, das in den Übergängen zwischen dem Ich und dem Anderen zuhause ist, dem inneren und dem äußeren Anderen. Scham soll uns vor Verletzung schützen, die der Andere mir zufügen kann, aber sie zeigt zugleich an, wie bezogen und wie verletzbar wir sind.

Wir leben mit Viren, sie sind in uns, nichts Äußeres

In den ersten Tagen der Pandemie sah man viele Menschen mit großen Toilettenpapierpackungen aus den Läden kommen und diese, die man sonst eher hinter dem anderen Einkauf versteckt, wie Trophäen ausstellen. Das Virus überschreitet Grenzen und wenn wir es bemerkt haben, ist es schon zu spät. Toilettenpapier hilft dagegen nicht, aber doch schien es eine Art symbolische Sicherheit zu geben. Das Virus überschreitet jedoch auch die Grenzen unserer Vorstellungskraft: Ist es Leben? Es hat selbst keinen Stoffwechsel, aber doch eine von Enzymen umgebene organische Struktur, also Gene oder Fragmente von ihnen, die in dem Augenblick aktiv werden und sich rapide vermehren, in dem sie in eine Wirtszelle eindringen können. Aber selbst, wenn wir es nicht zum Leben rechnen wollen: Alle lebenden Organismen interagieren mit Viren. Auch wir Menschen leben mit dem Virus, mit sehr vielen Arten von Viren. Die Zahl der Viren übersteigt die Zahl der Bakterien in unserem Körper und beides übersteigt die Zahl der menschlichen Zellen um ein Vielfaches. Vor allem im Darm scheinen Viren sehr nützlich zu sein. Andere Viren als Covid-19, sicherlich.

Viren existieren nur zusammen mit Lebewesen, sie sind auf ihre Zellen angewiesen. Sie sind jedoch für die Entwicklung des Lebens, auch des menschlichen, von großer Bedeutung. Die 2011 verstorbene Biologin und Evolutionstheoretikerin Lynn Margulis argumentiert in ihrer Theorie der Symbiogenese, dass die Entwicklung der Arten und die genetische Variation hauptsächlich durch einen Austausch genetischer Informationen und nicht über eine Auswahl der fittest geschehen sei, wie es die Neodarwinisten annehmen. Neodarwinistisch muten tatsächlich viele Äußerungen aus der Politik an, die davon sprechen, dass wir uns in einem Krieg gegen das Virus befänden. Dabei wissen wir, dass das unsinnig ist. Das Covid-19 Virus ist kein Außen, es ist ein anderes in uns, das uns nicht guttut, das wir uns aber auch nicht einfach gegenüberstellen können. Wir müssen uns selbst verändern, unser soziales Verhalten, unser bewusstes Denken, aber auch das Wissen unseres Körpers. Dieser Lernprozess ist riskant und er ist kränkend, er braucht Zeit, er verlangt Nachdenklichkeit und, ja, Vertrauen: nicht das Vertrauen, dass wir stärker sind, sondern das Vertrauen, dass wir lernen und uns verändern können.

Die Auswirkungen der Pandemie erzeugen unterschiedliche Arten von Schamgefühlen

Ist das nicht der Konflikt, dem wir uns so schwer stellen können? Wir spüren, dass wir uns verändern müssen. Wir müssen uns auf etwas einlassen, das wir nicht kontrollieren können. Wem können wir dabei vertrauen? Sicher nicht dem Gefühl der Ohnmacht, das so viele gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens polemisieren lässt. Treffend dagegen war die „ehrliche Liebeserklärung“, die „Mit Vergnügen Berlin“ am 5. April auf Instagram gepostet hat: „Ich vertraue Dir mehr als Dr. Drosten“ stand da mitten in einem Herz . Wir wissen noch sehr wenig über Covid-19, wir wissen sehr wenig über die Weise, wie es die Selbstregulation der Symbiosis unserer Körper stört, welche nachhaltigen Verwüstungen in den Organen auch derjenigen Menschen bleiben, die eine schwere Erkrankung überleben. Der französische Arzt und Philosoph George Canguilhem hat sich vor einiger Zeit entschieden gegen die Vorstellung gewandt, ein Körper sei nach einer Genesung von einer Erkrankung wieder so wie zuvor. Jede Genesung ist eine Veränderung. Alle organischen Strukturen sind unvollkommen und prekär, weil sie notwendig in einem Austausch mit anderen sind und sich dabei verändern.

Die gegenwärtige Viruspandemie verändert nicht nur diejenigen, die an ihr erkranken. Sie verändert uns alle, ob wir uns damit konfrontieren wollen oder nicht. Verleugnung ist mehr als Wegsehen, das, was verleugnet wird, ist immer schon gesehen worden. Es hat uns immer schon verändert. Was machen wir mit der Scham über die vielen Toten? Auch ich könnte der sein, den ich im Fernsehbericht auf einem Bett der Intensivstation auf dem Bauch liegen sehe, im künstlichen Koma und ans Atmungsgerät angeschlossen. Was machen wir mit der Scham über die Bilder von Kühllastern oder Eisstadien voller Särge? Den Drohnenbildern von ausgehobenen Massengräbern?  Was mit der Scham darüber, dass das medizinische Personal, das diese Menschen versorgt, dies unter Gefährdung ihrer eigenen Gesundheit tun muss, weil es keine Schutzkleidung gibt? Und dass wir sie in Situationen bringen, in denen sie, wie in Italien, Spanien und Frankreich ja geschehen, entscheiden müssen, wem sie die knappen Beatmungsgeräte geben und wen sie ohne diese Chance sterben lassen? Wenige von ihnen werden die Anmaßung einer solchen Entscheidung einfach wegstecken.

Ich empfinde die Art und Weise schamlos, mit der viele Politiker, aber auch Kolleginnen und Kollegen aus Kultur und Wissenschaft über diese Ohnmachtserfahrung hinweggehen und sie denen zuschreiben wollen, die darauf verweisen. Die Souveränitätsanmaßung, mit der das nicht selten geschieht, hat etwas Todessüchtiges: Der brasilianische Präsident Bolsonaro nennt die Erkrankung ein „Grippchen“. Seinen Gesundheitsminister hat er mit der Begründung entlassen, er habe sich nur um das Leben gekümmert. Es dauerte mindestens zehn Sekunden, bis er in seinem wöchentlichen Facebook Feed anfügte, dass der Minister nicht an die Wirtschaft Brasiliens gedacht habe. Auch Trump wirkt noch verstörter als sonst. Seine projektive Abwehr ist leider nur zu bekannt und vorhersehbar: Schuld ist, wer die Botschaft überbringt. Letzte Woche hat Trump die Zahlungen an die WHO suspendiert. Am 24. April hat er vorgeschlagen auszuprobieren, ob man nicht Desinfektionsmittel in die Körper Erkrankter spitzen könne: „And then I see the disinfectant where it knocks it out in a minute. One minute. And is there a way we can do something like that, by injection inside or almost a cleaning? As you see it gets on the lungs, and it does tremendous number on the lungs.”

Was die Wissenschaft rät, kann die Pandemie eindämmen, ist aber politisch nicht immer gewollt

Ein „Fahrplan zurück in die Normalität“ wird verlangt. Im Kern solcher Forderungen steckt eine Verleugnung der Wirklichkeit der Veränderungen, die sich vollziehen: wirtschaftlich, sozial, ökonomisch. Angela Merkel hatte ein sehr genaues Gespür für die triebhafte Unterfütterung solcher Wünsche, als sie am letzten Wochenende in einer für sie doch sehr ungewöhnlichen Wortwahl von einer „Öffnungsdiskussionsorgie“ sprach und vor ihr warnte. Jeder Interessensverband meldet sich plötzlich wieder zu Wort. Aber es geht um etwas anderes als um volkswirtschaftliches Kalkül. Man müsse darüber sprechen, „wie wir Gesundheit und Freiheit besser vereinbaren“, so Christian Lindners Erwiderung auf Merkels Regierungserklärung am 23. April im Bundestag. Aber kann man Gesundheit und Freiheit überhaupt gegenüberstellen? Ist nicht Freiheit damit verbunden, dass sich keiner das Recht anmaßen darf, das Leben anderer zu gefährden?

Am 13. April hat die Helmholtz-Initiative Systemische epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie eine Modellierung des Pandemieverlaufs veröffentlicht, die im Netz leicht nachlesbar ist. Über 20 Wissenschaftler aus der Epidemiologie, der Immunologie und der Mathematik haben darin sehr deutlich argumentiert, dass eine Fortführung oder gar Intensivierung der Bemühung, Infektionen zu verhindern, der beste Weg sei, nicht nur die medizinischen, sondern auch die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie möglichst gering zu halten. Wenige weitere Wochen hätten genügt, die Infektionsrate so weit herunterzufahren, dass neue Infektionen isoliert werden könnten. Es gab keine wissenschaftliche Kritik an diesem Modell. Aber die „Politik“ wollte es nicht.

Es war Franz Kafka, der nie über Schuld, wie in den Schulbüchern oft fälschlich behauptet, aber fast immer über Scham schrieb, der die Kritik an dieser Verleugnung der eigenen Bezogenheit zur Welt und damit auch der eigenen Nichtsouveränität so treffend formulierte: „Im Kampf zwischen dir und der Welt, sekundiere der Welt.“

Reinhold Görling lehrte bis 2018 als Professor Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Danach ging er an die Universität Wien als Professor für Filmwissenschaft am Institut für Theater,- Film- und Medienwissenschaft. Er forscht unter anderem zu Bild und Gewalt sowie zum New Materialism als medialer Ökologie. An der IPU hielt er im November 2019 einen Vortrag über psychoanalytische Überlegungen zum Film „Joker“, der in der IPU-Audiothek nachzuhören ist. Im Sommersemester 2020 ist er Lehrbeauftragter an der IPU Berlin und bietet in diesem Rahmen ein Seminar zu Film und Psychoanalyse an.